Marokko-Reisetagebuch 14. – 25.4.14

Eine Reise beginnt mit dem Packen, bekanntlich hat man immer doppelt soviel mit, als man benötigt, für alle Fälle, man weiss ja nie: es kann regnen, schneien, brutheizen, bei der aktuellen Klimaerwärmung ist alles drin – dann sollte man selbst in Dubai die Skiausrüstung dabeihaben, und natürlich das aufblasbare Surfbrett inkl. Segel, dass man auch als Schlafdecke im Flugzeug gebrauchen kann. Hätte ich alle Bücher auf meinem E-Leser in Druckform mitgenommen, er füllte bestimmt den ganzen Frachtraum. Dann die Notapotheke, wegen der Tsunamis und Erdbeben, die jetzt neuerdings überall und immer auftreten. Natürlich fehlt auch die Hälfte, darunter das Wichtigste: die Reisezahnbürste und die Badehose, der Stromadapter, die Ohrenstöpsel gegen Schnarcher und schreiende Kinder im Flugzeug - und natürlich der Pass.

Nein, ich habe mir beim Packen äusserste Mässigung auferlegt: erleichtert wird sie durch eine Tasche 50x 40 x 20, die von jeder Fluggesellschaft garantiert im Passagierraum untergebracht wird, auch von Easyjet, obwohl der Discountflieger in Sachen Gepäckaufgabe unberechenbar ist, was man bei den Preisen verstehen kann, aber zu einem Spiessrutenlauf und Betteln vor den Mass gebenden Stahlgestellen führt, in welche man die Taschen und Koffer vergeblich einzuzwängen versucht, mit Vorschlaghammer ging’s, aber der ist im Handgepäck nicht erlaubt.


Flughafen Malpensa / Mailand:

Marokko beginnt in Mailand, auf dem Flughafen. Auf Gate 85 findet sich ein buntes Gemisch von Völkern und Nationen, neben Europäern v.a. Marokkaner mit viel Kindersegen, was eine anstrengende Reise verspricht. Doch vorerst warten wir am Gate und beobachten, wie der verspätete Jet andockt und die Leute aussteigen. Viele tragen schwere Winterjacken und machen einen verregneten Eindruck, vermutlich Briten. Nachdem der Jet leergepumpt ist, werden die Speedyboarders zum Gate gebeten. Die Welt teilt sich, nicht in Afrikaner und Europäer, sondern in solche, welche die 12 Euro für 5 cm. mehr Beinfreiheit und Schnellabfertigung aufwenden können, und dem Rest. ich stelle mich in die Proletenschlaufe. Die Speedyborders, Europäer und ungeschickt geschäftsmännisch gekleidete Marokkaner mit ausladenden Gebärden, drängen sich durch ein Gewirr von gewichtigen Müttern mit Kindern, Koffern und Babywagen, dann folgen die Familien mit Kindern bis 5 Jahren. Während die Speedyboarders direkt zur Boardingtüre geleitet werden, winden sich die Familien mit dem ganzen Bagage durch endlose Sisyphusschlaufen, bis sie vor der Abschrankung angekommen sind, hinter der die Privilegierten warten. Als ich als einer der letzten Passagiere meine Bordkarte zeige, schaut mich der Bedienstete einen Moment entsetzt an, dann löst er die Abschrankung und fügt mich zum kleinen Grüppchen der Schnelleinsteiger. Ich gönne mir auf Flügen von mehreren Stunden jeweils einen Sitzplatz mit mehr Beinfreiheit und habe übersehen, dass dieser automatisch zum Speedyboarden berechtigt.

Als eine junge Marokkanerin mit ihrer Mutter vor ihren Sitzen neben mir stehen, kommt es zu einer Diskussion, erst will sich die Tochter neben mich setzen, doch die Mutter interveniert, schliesslich setzt sich die Tochter durch und neben mich. Ich erfahre, dass sie Sara heisst und ihre Mutter vor 24 Jahren mit ihrem Mann nach Italien gegangen ist, dort wurde Sara geboren, deshalb hat sie einen italienischen Pass. Sie laden mich gleich ein, sie am Ort der Familie zu besuchen.

Die Kinder haben sich übrigens auf dem Flug allesamt als zahm und ruhig erwiesen, was man von europäischen Kindern nicht behaupten kann.


Der Turbo-Deutsche in Casablanca

Auf dem Zug vom Flughafen nach Casablanca spreche ich einen Europäer auf Englisch an, er antwortet mit einem deutschen Englisch und ich gebe mich als Co-Alemanne zu erkennen. Wir kommen ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass der Typ ein total verrücktes Berufsleben hat. Er sei schon bestimmt 300x in Casablanca gewesen, manchmal Wochen hintereinander, oft nur für einen Tag. Er ist für die Verzollung von Autoersatzteilen auf der ganzen Welt zuständig. Wenn die Einfuhr stockt, muss er ran, das heisst dahin, wo der Ersatzteilstau ist. Letzte Woche war er in Ostasien, um 16 Uhr erfuhr er, dass sein Flug nach Casablanca für 18.30 gebucht ist. Er hat zuhause zwei Bordtaschen bereit, ich treffe ihn mit einem beschämend kleinen Rucksack an. Er wohnt 6 Kilometer vom Flughafen Frankfurt entfernt. Casablanca ist eine fleissig zu betreuende Adresse: er geht dann zum Zoll und legt ein Couvert mit 5-800 Euro hin, je nachdem wieviele am Deal gerade beteiligt sind. Dann läuft die Verzollung wie geschmiert. Seine Freundin habe den unbefriedigenden Lebensstil schon länger angemahnt und den Hut genommen, als er einmal in Südamerika im Hotel ausgecheckt habe und dann für sechs Tage von der Bildfläche verschwunden sei. Er war im Gefängnis gelandet, weil er angeblich mit Drogen gehandelt hat. Ja, er wünsche sich manchmal schon ein ruhigeres Leben und die Herumreiserei könne auch an die Substanz gehen.


Casablanca – Der Berber mit der Narbe

Casablanca ist busy, schmutzig, lärmig und trist. Ich habe beschlossen, schon heute weiter nach Marrakesch zu reisen. 15:30: mit 40‘ Verspätung fährt der Zug mit übermalten Waggons von SBB, ÖBB und DB, vollgepumpt mit Menschen, die sich wie Vieh in die Wagen drängen, da der Zug a) zu kurz und b) überbucht ist. Für den Preis von 6 Euro Casablanca Marrakesch, ca. 2 Stunden und 140 Km Fahrt, kann man nicht viel sagen, immerhin fährt er auch.

Zuvor hatte ich noch eine zwiespältige Begegnung mit Abdullah, seines Zeichens Künstler aus der Sahelzone, der in Düsseldorf Kunst studieren wollte und dort behördlich offenbar abgeblitzt ist. Abdullah grüsst mich auf der Strasse zum Hauptbahnhof und beginnt ein lockeres Gespräch. Er schliesst den Master in picture design oder so was Ähnliches ab, jedenfalls will er nach den Schlussprüfungen in zwei Monaten als selbständiger Photograph in der Sahel arbeiten. Eine Photokamera hat er aus finanziellen Gründen nicht, er bevorzugt aber alte Geräte und S-W-Bilder. Abdel erzählt munter und lädt mich zu einem Bumerang-Essen ein, das sind Einladungen, für die man am Schluss finanziell einsteht. Auch raucht er gerne von meinen Zigaretten, rühmt die Schweizer Marke, kennt sich in Tabak und – wie er später bekennt – in Haschisch ordentlich aus. Als ich meine Bauchtasche öffne, um zu zahlen, ahne ich aus seinem gebannten Blick darauf bereits, was auf mich zukommen wird. Er begleitet mich noch zum Bahnhof und will mich – sprich sich - partout noch zum Kaffee einladen. Hätte ich seine Zuversicht in die Verspätung geteilt, so hätte ich den Zug, auf dem ich nun – in der ersten Klasse - sitze, lediglich um 10 Minuten verpasst. Jedenfalls kommt er in Abschiedsstress, als ich mich vor dem Bahnhof vor ihm verabschiede, mit der Versicherung, seine Homepage zu besuchen. In gedrechselt elegantem Französisch bittet er mich noch, ihm zu erlauben, eine Frage an mich zu richten, gewissermassen von Künstler zu Künstler – ich erlaube es ihm, das Kommende ahnend: wie ich sicher wisse, sei das Dasein als Student existenzieller Schwerkraft unterworfen, kurz, ob ich ihm nicht etwas Geld überlassen könnte, er müsse jetzt gleich noch Bücher kaufen (vor einer halben Stunde wurden die Bücher noch geliehen, weil kaufen zu teuer ist) , seine freundlich braunen Zähne mit Abständen (jetzt weiss ich, wozu alle meine SchülerInnen mit Zahnspangen herumlaufen) erweichen mein ohnehin grosszügiges Herz. Also gebe ich ihm 100 Dirham, er nimmt sie mit einem vexierten Lächeln entgegen, das Dankbarkeit und Enttäuschung gleichermassen ausdrückt. Ob ich ihm nicht noch etwas Euro, sagen wir 50, geben könne, Euros seien bei den Buchhändlern äusserst beliebt und die Bücher – ah jetzt kommt auch noch irgendwelche Photosoftware dazu - seien, wie gesagt, für einen Studenten der Kunst, von der Regierung vernachlässigt…. usw. unerschwinglich.

Das ist der Moment, auf den ich nicht vorbereitet bin: ich war gefasst auf aufsässige Jungs, die mit ebenso leeren Versprechen wie Händen neben dir herlaufen und nicht loslassen, ich bin gefasst auf falsche Taxifahrer, gefakte Führer, deren unverschämte Preise disproportional zu ihrer Qualifikation stehen. Aber ich bin nicht gefasst auf einen eloquenten Converencier und Künstler in abgenutzter, eleganter Kleidung, der sich vom Sahelberber zum Master of modern western arts gemausert hat. Das Gesicht mit dem bitteren Lächeln und die zwei Narben an Kinn und Nasenflügel, die deutlich auf eine messertechnische Abrechnung hindeuteten, all das lässt mich einen Moment lang wanken. Doch schliesslich habe ich mein moralisches Gleichgewicht dadurch ins Lot gebracht, dass ich ihm für seinen überdurchschnittlichen Auftritt etwas Geld gegeben und gleichzeitig die kunstvolle Lüge in nicht bezahlten Euro in Rechnung gestellt habe. Wie auch immer: Not macht erfinderisch und jeder tut es auf seine Art. Er wird der originellste Bettler auf meiner Marokkoreise bleiben.

Armut ist ab einem gewissen Grad demütigend, sie wird nur dadurch erleichtert, dass die Umgebung auch nichts hat, so lässt der eine dem anderen im Preis nach, man schiebt den Jungs, die bettelnd vor dem Imbissstand aufkreuzen, für einen Dirham etwas Essbares rüber. Ich glaube, die Armen würden in Abdul einen überheblichen Scharlatan sehen, der unverschämt genug ist, seine Armut theatralisch zu kaschieren. Aber ihm habe ich gegeben, der jungen Frau nicht, die am Boden sass, ein Bein angewinkelt unter einem Tuch, tatsächliche oder fingierte Versertheit erweckend, auch nicht der ob ihrer Armut unglaublich alt aussehenden Frau mit verwachsenem Gesicht. Ungewohntheit? Scham?


Marrakesch – les „guides noirs“

Nun also unterwegs nach Marrakech, der Blume des Orients, von Allah angeblich über den Hohen Atlas geworfen. Nach 15 Minuten verzweifelten Ausharrens in Zwischenteil, stehend gedrängt und bei offener Tür, haben ich und ein junger Spund die verbarrikadierte Tür zwischen zweiter und erster Klasse trickreich geöffnet (ein Schweizer Sackmesser wäre hilfreich gewesen), worauf ich mich auf den wohl letzten freien Platz in der ersten Klasse gesetzt habe – so frech, dachte ich, kann nur ein Schweizer auf seinem Recht nach Sitzplatz bestehen. Doch weit gefehlt, der Schaffner (der mich nicht kontrolliert) erkennt in meinem Abteil ein Pärchen als doppeltes Schwarzfahrerduo: doppelt, weil einmal ohne Ticket und dann noch in der ersten Klasse. Immerhin zahlen sie keine Busse.

Wie kostbar das Wissensgut ist, erfährt man vorzüglich auf Reisen, wo jede Millimeter Weg hart mit Erkundungen erworben werden will – das Vorwärtsschreiten erweist sich als zäh, die Abläufe als ein Mirakel.

Die Landschaft wird zusehends grüner, es ist Frühling, die Berge diesseits des Hohen Atlas spenden viel Wasser. Im Winter hat es geschneit wie selten in Marokko, sogar in Marrakesch. Die Landschaft erinnert etwas an Piemont, fehlen nur die Reisfelder. Jenseits des Atlas, woher Abdul, der Kunstphotograph, kommt, herrscht absolute Trockenheit. Abdel, der auf Kamelen aufgewachsen ist, in Kaftans gehüllt oder in naturklimatisierten Hütten der Hitze getrotzt hat, der Geschichten weiss aus 1000+1Nacht.

Auf der Zugfahrt wird die Landschaft hügeliger und trockener, fast canyonartig, im Sommer sehe man hier kein Vieh mehr auf den sacht gegrünten Frühlingswiesen, berichten meine junge Reisegefährtin und ihr Kollege. Nach dieser Trockenlandschaft, die erahnen lässt, warum alles in die rappelvollen Städte flieht, öffnet sich das Land in einer Hochebene erneut und man sieht bereits die Konturen des Atlasgebirges. Wir fahren durch eine noch grünere Senke, verdichtetes Siedlungsgebiet kündigt Marrakech an.

Ich decke mich noch mit Hinweisen der Mitreisenden ein: gegen die „guides noirs“, die hier entgegen dem Reiseführer „faux noirs“ heissen, soll ich es mit einem höflichen „llà schokran“ (nein, danke) versuchen. Ich werde schon bald erfahren, dass mir mein erster Arabischkurs wenig hilft. Nachdem ich mich zwei marokkanischen Studenten, die nicht wie Abzocker daherkommen, anschliesse, nehmen wir den Bus bis in die Medina, wo ich nach einem geeigneten Taxi Ausschau halte. Ich winke eines der ockerfarbenen Taxis heran, dass so heruntergekommen ist, dass ich einen fairen Fahrpreis vermute. Der Taxifahrer lässt immerhin mit sich handeln: 30 Dirham will er, dafür soll er mich vor das Hotel bringen. Es sind europäische und marokkanische Ferien, Tausende von hupenden Autos, Mopeds und Bussen zwängen sich durch die engen Strassen der Medina. Nach 20 Minuten und vor einer engen Marktgasse ist Sense, ich steige aus, nicht ohne vorher die Telefonnummer von Said, dem Taxifahrer, zu notieren. Ich kann ihn und seine fahrende Rostlaube für 250 Dirham pro Tag mieten. Nun muss ich zu Fuss durch das Gewirr von Gassen hindurch zu meinem Hotel, ich ahne schon Schlimmes: zweimal wimmle ich einen „guide faux“ ab, frage in einem Café den Kellner nach dem Weg, finde wie durch ein Wunder die Gasse, nicht aber die Hausnummer (da sie nirgends steht. Ein weiterer „gifa“ reisst mir förmlich den Zettel aus der Hand und drängt mir seine Dienste auf, indem er forsch vorauseilt und ich Esel natürlich hinterher. Fünf Minuten gehen wir in eine (falsche) Richtung, bei Hausnummer 120 hört die Gasse auf und eine neue beginnt, ich suche das Hotel an der Nr. 131 – schliesslich entziffern wir auf meinem Zettel den richtigen, laufen zurück und links in eine noch kleinere Gasse hinein und stehen vor der Stahltüre des kleinen Hotels. Schon will ich mich verabschieden, weiss aber, was jetzt kommt: der gifa will einen Obolus, ich gebe ihm was ich im Hosensack an Kleingeld habe, schaue nicht mal auf die Münzen, aber es sind einige Dirham, was ihn natürlich beleidigt – er will mehr, ich sage, ich hätte kein Kleingeld (typische und leicht durchschaubare Touristenantwort), finde dann doch (wie dumm von mir!) 10 Dirham, was einem Euro entspricht – er betont die fünf Minuten Einsatz seines seit 20 Jahren existierenden Lebens, den Dienst, ohne den ich – das muss ich zugeben – die Adresse nie gefunden hätte. Ich sage, das sei alles, was ich Kleingeld hätte, er bietet mir grosszügig an, ihm 100 Dirham zu geben – ich bin fassungslos, frage noch mal zurück, 1 Euro (was schon 10 Euro Kaufkraft bei uns entspricht – mindestens!) sei ihm nicht genug??? Ich sage „take it or leave it“, drücke die Stahltüre zum Vorhof auf, gehe zur Türe der Pension, er lässt sich nicht abschütteln, wird sogar aggressiv, schon rüste ich mich für eine nonverbale Auseinandersetzung, drücke die Klingel, worauf ein alter Mann, der Gastgeber, die Türe öffnet, doch der Bengel bleibt dran, ich hätte ihm einen Auftrag erteilt, er habe ihn erfüllt und somit Anrecht auf die geforderte Entlöhnung.

Jetzt platzt es aus mir heraus: ob er eigentlich wisse, dass man in Europa sein Geld auch nicht auf der Strasse finde, dass es Leute gebe, die mit einem (auf eine Stunde umgerechneten) Lohn von 12 Euro mehr als zufrieden seien, worauf er mir entgegnet, wir seien hier in Marokko nicht in Europa, ich kann kaum mehr an mich halten vor Empörung und belle ihn an, er würde dem Ruf seines Landes und dessen erste Einnahmequelle schaden, er trage eine Verantwortung etc…. schon zieht mich der alten Mann zur Türe rein, und der Bengel legt noch einen drauf, er will die 10 Dirham, ich gebe sie ihm, damit er abzieht (ich Esel!) und er bedankt sich mit der Bemerkung, ich hätte Glück gehabt, dass mein Gastgeber ein „good friend of me“ sei – im Übrigen sei ich ein „salaud“, der Gastgeber lässt die Türe ins Schloss fallen, und hält mich zurück, als ich nochmals raus will, um ihm die freche Gosche doch noch zu polieren. Ich werde erst mal mit süssestem Pfefferminztee beruhigt, so wie man es mit Kindern macht, dann entschuldigen sich Gastgeber und Sohn, dies sei eine regelrechte Plage.

Immerhin bin ich angekommen im Souk von Marrakech, in diesem Gewirr von Gassen, das einzig deshalb vor tausend Jahren angelegt wurde, um die Touristen im 21. Jahrhundert gehörig zu beuteln. So ein Gebaren hat man sich mir gegenüber in Palästina, denen es wirklich dreckig geht, nicht erlaubt, und dieses Gesindel ist eine Schande für ein sonst so gastfreundliches und grosszügiges Volk, wie die Marokkaner es sind. Nun bin ich Gefangener in fremdem Land und zur Geisel von einigen Scharlatanen geworden, gegen die offenbar kein Kraut gewachsen ist, denn eine Gasse sieht aus wie die andere und der nächste Spiessrutenlauf durch das Heer unerhörter Gehörloser ist vorprogrammiert. Entweder ich hocke den ganzen Tag im Hotel herum oder besorge mir einen Bodyguard in Form eines offiziellen Guide, die es hier auch geben soll, oder ich schule meine Menschenkenntnis und kombiniere sie mit Abwehrkraft und Ignoranz. Jedenfalls kann ich mit meinem „llà schokran!“ einpacken.

Der alte Mann, der die kleine Pension Bahia Tag und Nacht hütet, hat mich versöhnt, er strahlt ein unglaubliches Vertrauen aus und ist mit seinen bestimmt 75 Jahren schön, weil er die Menschen liebt. Er hat warme Gesichtszüge, die Freundlichkeit und Demut ausstrahlen, er schielt leicht, was den Eindruck verstärkt. Er macht alles selber, putzen, Frühstück, Reservationen. Das Gästebuch ist voll von dankbarer Liebe für diesen Menschen, der nur einen einzigen Gedanken hat; den Gästen das Gefühl zu geben, dass sie willkommen und zuhause sind. Dabei ist er nie aufdringlich, er scheint zu spüren, wann man ihn braucht. Schade, dass er nur für eine Nacht Platz hat. Als wir uns nach zwei Tagen auf dem Platz der Gaukler, Gauner und Zauberer verabschieden, schüttelt er mir heftig die Hand und hält mich gleichzeitig an der Schulter, was zu einer Umarmung führt, ich drücke ihn an mich, diesen Herzmenschen und er küsst mich wie einen Sohn fünfmal auf die Wangen.


« Die Stimmen von Marrakesch »

Der Vollmond über der Terrasse des Hotel Royal Larousse besänftigt die Wogen, es ist inzwischen elf geworden, mich rufen jetzt Canettis „Stimmen von Marrakesch“.

Das Royal Larousse ist um einiges vornehmer, mit Innenhof samt Swimmingpool und schöner Dachterrasse, ebenfalls mit Pool, wo ich nun sitze und sie nun zum ersten Mal höre, die Stimmen von Marrakesch. Jetzt taucht die Stadt langsam ins Dunkel ein, am Westhorizont das rote Restlicht, stellenweise wie Feuer, als schiene die Sonne durch aufgewühlten Sand, ein kühler Wind aus dem Atlasgebirge durchflutet die Stadt. Das Leben kommt nicht zum Stillstand, die Moscheen überragen alles, so wie die Religion, das letzte Refugium aller Verzweifelten und vergeblich auf ein besseres Leben Hoffenden.


Armut und Abzocke / Reichtum und Besinnungslosigkeit

Das Gefälle hier ist riesig, Ceuta und Melilla sind nah, die Bruchstellen des Daseins öffnen sich hier, wo Reichtum und Armut aufeinandertreffen. Wenn in Ceuta und Melilla alle den Absprung ins reiche Europa suchen, so springen hier die Einheimischen die Europäer an, Europa ist da, wo das Geld ist, und wenn man sein Glück nicht im Norden suchen darf, so halt hier vor der Haustür. Der untergründige Hass vieler v.a. junger Marokkaner muss gross sein, die Touristenkultur kann man auch als Zumutung sehen – die Touristinnen zeigen offen ihr weiss-rotes Fleisch, nachlässig gekleidet, mit Trägershirt, kurzen Hosen und Schlappen traben sie durch die Souks, an den Blicken der Männer und den verschleierten, zuweilen bis über die Knöchel zugepackten einheimischen Frauen vorbei. Eine Frau, die sich hier so zeigt, ist für die Araber nicht mehr als eine „sharmuta“, eine „Schlampe“. Der Auftritt der Touristen legitimiert die Abzockerei moralisch. Von der habe ich heute wieder eine Kostprobe bekommen und auch von meiner Unfähigkeit, mich mit den Leuten verbindlich zu verständigen. Als ich am Mittag etwas essen will, bedienen mich zwei überaus zuvorkommende Kellner, ich bitte nur um eine Kleinigkeit, sie tischen das ganze Programm auf, am Ende lasse ich 40 Franken liegen. Immerhin ist das Essen o.k. und als ich nach Bier frage, bittet man mich an einen Tisch, der von der Strasse nicht so gut eingesehen werden kann. Der Kellner stellt eine Blume und eine Flasche Apfelsaft auf den Tisch und das Bier davor, entweder um es vor den fanatischen Blicken der muslimischen Gralshüter zu verstecken, oder um den hohen Preis zu rechtfertigen. Offenbar steht ein Bier im Sündenranking noch höher als zur Schau gestelltes Frauenfleisch, jedenfalls deckt man das Bier zu, die Schenkel nicht. Der Oberkellner bietet mir sogar eine Haschzigarette an, die ich dankend ablehne. Zwei Tische weiter sitzt ein europäisch aussehender Mann, dessen Alter schwer zu schätzen ist, der die fünfzig vermutlich überschritten hat und aussieht wie Alan Delon nach dem Mähdrescher. Sein ganzes Gesicht ist vernarbt, gräulich-weisser Stoppelbart, aber die Augen scheinen alles in der Umgebung zu durchschneiden. Er wird hier bevorzugt bedient, offenbar ein Dauergast, er erhält auch die vorbereitete Haschzigarette und als er aufsteht, scheint es, dass er behindert ist, jedenfalls hinkt er leicht und sein linker Arm gehorcht den Befehlen nicht. Ein Hauch von Casablanca und Fremdenlegion....

Inzwischen ist es schnell dunkel geworden, Sterne zeigen sich und bald wird der fast volle Mond aufgehen. Die Lichter und Farben haben Camus hierhergezogen. Das Absurde begegnet einem auch hier, und besonders hier. Man darf diesem Denker nicht genug dankbar sein für das letzte Refugium eines jeden Selbstmörders, der aus der Asche seines Lebens die Reste Lebensglut zu hauchen versucht. Der tägliche Selbstmord spendet täglichen Lebenssinn.

Sich hier zu bewegen ist gewiss so schwierig zu lernen wie Skifahren, man muss vorsichtig beginnen, nicht gleich lospreschen. Also laufe ich erst die Strasse hoch bis zum Tor der Medina, bei jeder noch so kleinen Biegung versuche ich mich an Dinge zu erinnern, die mich ariadnehaft ins Hotel zurückführen. Vor der Stadtmauer ist Markt, dahinter an der grossen Strasse erkenne ich den Busbahnhof. Viel Betrieb um diese Zeit, die Nachtbusse fahren ab, ein Treiben wie auf dem Markt – so reisen die Marokkaner, die Ziele der Busse sind nur auf Arabisch angeschrieben. Ich erkundige mich nach den Kursen nach Tanger, es gibt ca. 8 pro Tag, am Abend seien die Busse komfortabler, eine Fahrt kostet 160 Dirham, 16 Euro, also nichts, wenn man mit dem Essen von heute vergleicht und die Benzinpreise in Erwägung zieht, Diesel kostet fast einen Euro, im Bus sitzen vielleicht 60 Passagiere, 60x16 = 960 Euro für etwa 700 Km. Und 8-9 Stunden Fahrt.

Sie sitzen in den Zügen und fummeln an ihren Handys rum, für die Landschaft und die Menschen haben sie weder Gehör noch Empfindung. In den Hotels lümmeln sie in der Launch herum, am Computer, am Handy, immer sind sie gerade da, wo sie nicht sind. Ein Pärchen aus Holland, beide sehr jung, wollen nichts lieber als in irgend einen Hotelpark gehen, da gebe es Swimmingpools und ordentliche Getränke, man könne sich wirklich mal entspannen. Die Stadt ist ihnen zu stressig. Drei Mädchen von vielleicht 17 Jahren räkeln sich im Bikini vor dem kleinen Innenhofpool, lichten sich gegenseitig ab, machen Posen und posten sie auf Facebook. Zwei ziemlich dicke, junge Französinnen karibischer Provenienz sitzen am Abend auf der Dachlaube des Hotels und zwitschern auf ihren Handys rum, „haste noch Töne!“ Das Fremde bleibt fremd, die eigene Welt wird überallhin mitgenommen wie das Deo im Reisekoffer, während draussen die Medina bebt, das Leben pocht, ein riesiges Konglomerat an Bewegungen, Gerüchen und Menschsein.

Die älteren Touristen durchforsten langweilige Reiseführer, wo steht, welcher König mit welcher Frau und welchem Sohn wann in welchem Palast und dort in welchem Zimmer gewohnt, regiert und abgezockt hat. Dann klappern sie brav wie Etappenesel die Posten ab, photographieren und zeigen daheim der ganzen mickrigen Welt, was sie für tüchtige Weltreisende sind.

Alle sie haben keine Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge des Alltags hier, sie kommen gar nicht darauf, in den Gesichtern und Gesten der Menschen zu lesen – es ist, als starrten sie auf ein künstliches Armaturenbrett, das ihnen abstrakte Daten anzeigt, während sie fahren, Land und Leben an ihnen vorbeizieht.


The urban farmer

Zum Beispiel entdeckt man seltsame Erscheinungen. Gestern, es war schon fast dunkel, fiel mir auf der Terrasse gegenüber des Hotels plötzlich eine ungewöhnliche Bewegung auf, die nicht von einer Katze, sondern von einem grösseren Tier stammen musste. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich einen Truthahn, der auf dem Tisch nach Essen stocherte. Dann sah ich noch mehr Treiben und dass sich Hühner und sogar kleine Kaninchen auf vielleicht zwanzig Quadratmetern bewegten, durch ein Eisengeländer und Drahtgeflecht gefangen. Die verschiedenen Gattungen schienen wohl gut nebeneinander zu leben, stakten und humpelten friedlich nebeneinander her. Ich fragte mich, wer wohl einen solche Terrassenfarm betrieb, ob es ein Tierfreund sei oder jemand, der sich den fleischlichen Nachschub selber hielt. Auch fragte ich mich, wie er den Platz von Unrat und Kot, der doch gewiss täglich anfiel, reinigen würde. Heute wurde ich zufällig Zeuge dieser Begegnung zwischen den Tieren und deren Halter. Es war ein schlanker, hochgewachsener Mann von vielleicht sechzig Jahren. Er stand plötzlich da, woher er gekommen war, entzog sich dem Betrachter. Seine Hände steckten in den Hosentaschen. Er schien die Tiere zu beobachten, auch sah er sich mehrmals um, offenbar um zu ermessen, was zu tun sei. Das Verhalten der Tiere veränderte sich, sie bewegten sich jetzt in sicherem Abstand aber unmittelbarer Nähe zu ihm, vielleicht hofften sie auf neue Nahrung. Er passte überhaupt nicht zu dieser Umgebung. Er trug ein kariertes, gebügeltes Hemd und eine graue Buntfaltenhose, die seine aufrechte Grösse unterstrich. Ich fragte mich, woran er dachte, wenn er seine Tiere – und es waren doch zweifellos seine Tiere – besuchte. Dachte er daran, welches Tier er als nächstes schlachten und essen würde, und zu welchem Anlass? Oder dachte er an die Arbeit, die im Laufe Tage angefallen war? Nach einigen Minuten des Beobachtens begann er aufzuräumen, aber es tat es ungeschickt: er nahm einen herumliegenden grossen Plastiksack und legte ihn auf einen Stuhl, doch der Wind wirbelte ihn sogleich auf und er musste ihn erneut aufheben und wieder – vehementer, wie mir schien – auf den Stuhl legen. Um den Sack zu beschweren legte er etwas darauf. Dann sammelte er irgendwelche Dinge vom Boden auf, unsystematisch und widerwillig. Seine Unbeholfenheit nahm zu, auch sein Ärger: einmal kickte er irgendetwas am Boden weg zu den Tieren hin. Dann begann er systematischer aufzuräumen. Es schien, als wische er die Gegenstände auf dem Boden nicht mit einem Besen, sondern mit der Hand zusammen. Dann verschwand er und kam später mit einer grossen Flasche Wasser zurück und leerte es in die Gefässe für die Tiere. Dann verschwand er wieder so unsichtbar wie er gekommen war.


Der Mond duckt sich – Bewegen in den Souks

Kaum ein paar Tage hier, schon müssen Präzisierungen vorgenommen werden. Nicht alle wollen abzocken und nicht alle Touristen geben hier ein schlechtes Bild ab, jedenfalls gibt es viele Helfer zum Nulltarif. – aber alles de Reihe nach!

Ich hatte die beiden ersten Tage wirklich Pech und wurde ausgequetscht, wo immer es ging. Vielleicht ist es nun auch mein Blick, der Aufsässige abhält, ich bewege mich ungezwungener, schaue den Falschen nicht in die Augen und erwidere ein höfliches, aber bestimmtes „no merci!“. Vielleicht können die „guides noirs“ auch an meinem Gesicht ablesen, dass ich schon bis auf die Knochen geschröpft wurde. Ich wähle genau aus, wen ich nach dem Weg oder sonstwas frage: Polizisten, Parkplatzanweiser, Ladenbesitzer, gepflegte Geschäftsleute. Und doch: die Leute sind hier nicht auf den Kopf gefallen: handelt man mit einem Taxifahrer eine Pauschale für einen Fahrdienst aus, so rast er wie vom Affen gebissen durch die Stadt, schneidet jedem noch so alten und schwachen Radfahrer brutal den Weg ab, hupt und flucht, was das Zeug hält. Ich verlange ich jetzt immer, dass man den Taxameter einschaltet. So auch heute, wo ich zum nahen „Jardin Agdal“ wollte. Nachdem wir losgefahren waren und der Taxameter nach zwei Aufforderungen tatsächlich tickte, eröffnete mir der Fahrer, dass der Jardin Agdal heute aus polizeilichen Gründen nicht zugänglich sei, er wisse aber einen viel schöneren Park – Nicht immer dieses Misstrauen, dachte ich, und freute mich an diesem Menschen, der es gut mit mir meinte. Es fiel mir aber auf, dass er – entgegen allen anderen Taxis – sehr umsichtig und langsam fuhr, jedem den Vortritt liess, ja, es schien sogar, dass wir unser Ziel etwas grossräumig anfuhren. Schliesslich hielt er wirklich vor einem sehr grossen Park, in dem aber nicht die zugesicherte botanische Vielfalt, sondern ein Olivenhain war. Wir befanden uns auch nicht weit vom Flughafen und – vielleicht zum Hohn – verriet er mir, dass hier der äusserste Punkt sei, den er mit seinem Taxi behördlicherseits noch bedienen dürfe. Zwar war ich jetzt um einige Dirham erleichtert und fand nicht die gepflegte Orangerie vor, doch ich war tatsächlich in einem riesigen Park, dessen Name in keinem Führer steht, in dem aber die Einheimischen sich gerne aufhalten.

Zum Thema Reiseführer: Sie sind in der Regel unbrauchbar: zwar erfährt man, dass King Mohammed V einen Sohn hatte, der Hassan II hiess und dass dieser Hassan wiederum einen Sohn hatte, der nun wie alle seine Vorfahren unter dem unverwechselbaren Namen Mohammed VI regiert. Auch ist jede Moschee so genau beschrieben, dass man sich einen Besuch sparen kann. Dafür wird vor den engen Gassen gewarnt, weil man sich an irgend einem Bimbam, das herunterhängt, den Kopf anstossen oder – noch schlimmer – sich gar verlaufen könnte. Dabei sollte man gerade das: sich den Kopf anstossen und herumirren. Zudem sind die Karten unbrauchbar, fehlen meistens die wichtigsten Hinweise und die Angaben sind falsch: man mag die „guides faux“ zwar für brandschwarze Scharlatane halten, aber „guides noirs“, wie der Guide behauptet, nennt man sie nicht. Im Zug von Casablanca nach Marrakesch hat sich sogar das 1.-Klass-Publikum empört gezeigt, als ich von den „guides noirs“ sprach. Marokkaner sind Marokkaner und Schwarze sind Schwarze.

Reiseführer haben auch Schreibfehler: entweder schreiben die Autoren falsche Namen auf oder die Lektoren dichten dazu: jedenfalls war kein Taxifahrer bereit, mich zum Derb Souk Jeldid zu fahren, zu recht, weil es den gar nicht gibt, er heisst hier nämlich „Jdid“, Souks gibt’s viele, Derbs auch, zwei Buchstaben zuviel und schon verschwindet ein Ort von der Landkarte. Dabei lohnt sich der Weg zum Derb Souk Jdid Nr. 11, weil dort das Restaurant Souk Kafe einheimische Spezialitäten serviert. Ich habe hier für 25 Euro wie ein Fürst gegessen, Suppe, Couscous, sogar Wein und den besten Espresso bisher. Man erinnert sich vielleicht an die durch Tische zu einem „Restaurant“ hochgestapelte Fastfoodbude, wo man mich um 40 Franken leichter gemacht hat. Nachdem mich kein Taxi zum Souk Kafe fahren wollte und man mir im Hotel versicherte, es sei ganz nah, ging ich zu Fuss los. Mein Vertrauen in den Reiseführer war inzwischen so weit erschüttert, dass ich den Punkt auf der Stadtkarte, der das gesuchte Restaurant Souk Kafe markiert, ignorierte und im Googlemaps nach der richtigen Bezeichnung suchte. Und tatsächlich, das Souk Kafe befand sich anderswo. Also ging ich los, nach „Gefühl“, man half dem Ausserirdischen mit korrekten Hinweisen, immer schickte man mich um die nächsten drei Ecken, wo ich wieder nachfragen sollte. Nach fast einer Stunde fand ich mich in einer schmalen Gasse wieder und fragte einen jungen Ladenbesitzer in einem schönen traditionellen Gewand. Er hatte schöne Gesichtszüge. Er war sich nicht nur sicher, welchen Weg ich zu gehen hatte, alles an ihm strahlte Sicherheit aus, sein Gang, sein Sprechen, sein junger, aber fester Gesichtsausdruck. Er bot sich an, mich zu begleiten. Angesichts dieser, ja fast weltmännischen, Eleganz verbot ich mir jedes weitere Misstrauen und als wir nach zwei Minuten vor dem Restaurant standen, bot ich ihm von mir aus 10 Dirham (1 Euro) an, einen Betrag, den er sofort mit den Worten „je prends vingt Dirham“ verdoppelte. Wenn er seine Dienste auch nur zweimal täglich in dieser Weise anbot, so würde er in einem Monat 1/8 des durchschnittlichen Einkommens erwirtschaftet haben. Ich wäre aber nicht darauf gekommen, mit ihm zu handeln, zumal ich mich plötzlich in der Rolle des „Verkäufers“ sah, weil ich schon im voraus 10 Dirham gegeben hatte und der Handlungsspielraum somit eingeschränkt war - und wie kompliziert eine solche Verhandlung sein kann, hatte ich ja schon am ersten Abend in Marrakesch erlebt.

Auch zu den Touristen muss man gerechterweise eine das schlechte Bild mildernde Ergänzung machen. Hier sind viele aus Spanien, Frankreich und Italien. Im Souk Kafe findet man die mediterranen Feinschmecker. Das Restaurant hat einen traditionell eingerichteten Teil und darüber eine gemütlich hergerichtete Terrasse. Ich ass im gedeckten Bereich. Es spielten zwei ältere Männer traditionelle Musik, die sie – immer wenn Touristen kamen – durch europäische Kalauer unterbrachen, frère Chaque… und so weiter. Nach kurzer Zeit betrat eine Gruppe Spanier das Restaurant. Es waren zwei Pärchen, eines davon mit einem etwa zehnjährigen Sohn und einer Tochter, die wohl an der Schwelle zur Adoleszenz stand. Alle waren auf ihre Weise schön, nicht Schönheiten, das Mädchen und der Vater ausgenommen, aber sie hatten würdige Gesichter, waren umsichtig in ihren Bewegungen und drückten eine angenehme Scheu aus. Der Vater erinnerte mich an Statuen von Sokrates, er hatte schwarze Augen und einen kräftigen, ebenso schwarzen Bart. Seine Kinder waren in Aussehen ebenso schön und umsichtig in ihrem Gebaren. Die Tochter glich mit einer Ausnahme dem Vater: sie hatte den Mund ihrer Mutter angenommen, der ein wenig affig war. Das minderte ihre Schönheit jedoch nicht. Sie sass in ihrer schlanken Gestalt leicht zurückgelehnt in der immergleichen Pose da, die langen Arme und Hände zwischen den Schenkeln vergraben. Dabei schien ihr Blick traurig in irgend eine Zukunft gerichtet, nur manchmal erhellte sich ihr Gesicht zu einem Lächeln, wenn jemand etwas Lustiges erzählte. Vielleicht hatte sie die erste Enttäuschung der Liebe hinter sich oder sie wartete, wie alle in diesem Alter auf irgend etwas warten. Die Pubertät ist ja eine schwere, aber notwendige Krankheit. Ich hatte herausgehört, dass die Mutter starke Kopfschmerzen hatte, die Restaurantbetreiber schicken sich schon an, in der Apotheke ein Schmerzmittel zu besorgen. Da fiel mir ein, dass ich immer ein Mittel dabei hatte und fand ein Tütchen mit Aspirin, das ich ihr reichte. Sie schien sehr erleichtert, auch über den Hinweis, das Pulver möglichst lange im Mund zu halten, damit es schneller wirkte. Jeder weiss, wie unerträglich Kopfschmerzen unterwegs sind, wenn man keine vertraute Gelegenheit hat, sich auszuruhen. Doch meine Geste entsprach mehr dem Wunsch, in einen Kontakt mit diesen schönen Menschen zu kommen.

Auf der Dachterrasse beobachtete ich eine italienische Gruppe, bestehend aus zwei Pärchen mit vier Töchtern, zwischen vielleicht 12 und 16. Die Szene wurde von einer der Mütter dominiert. Sie erzählte Begebenheiten, die so lustig waren, dass alle lachen mussten. Ich verstand aufgrund der Distanz nicht viel mehr, als dass italienisch gesprochen wurde, aber soviel konnte man erkennen, es mussten tolle Geschichten sein und man lachte nicht auf Kosten eines andern. Die Erzählerin hatte dunkle Haare und alles an ihr schien kräftig, sie hatte einen nicht dicken, aber wuchtigen Körper, das sah man, wenn sie beim Erzählen die Arme hob. Ich sah sie nur von hinten, aber sie strahlte eine starke Weiblichkeit aus. Sie war so gut im Erzählen, dass die eine Tochter sich näher zu ihr hin und auf den Schoss ihres Vaters setzte, obwohl sie dafür eigentlich schon zu gross. Dieses stille Einverständnis einer kleinen Gemeinschaft in die Kraft des Erzählens begeisterte mich. Im ganzen Ereignis lag Aufrichtigkeit. An einem anderen Tisch unterhielten sich zwei Frauen in mittlerem Alter über eine offenbar ernste Angelegenheit. Sie waren zu dritt, vermutlich ein Sohn der einen Frau. Er war etwa 16 Jahre alt, wurde aber als vollwertiges Mitglied in das Gespräch einbezogen. Hätten wir nicht diese schönen, lebenslustigen Mittelmeerianer, um wieviel ärmer wäre Europa!


Im Zug von Casablanca nach Tanger (Tangier, Tantscha oder Tantschia)

Jeder, der schreibt, kennt das: man beobachtet eine Situation und weiss sogleich, dass sie nicht beschreibbar ist.

Ich nehme den Zug um 6.55 über Casablanca nach Tanger. Eine Tagesreise.Von dort muss ich noch weiter über Tetuan nach Ouad-Lau, wo ich das Künstlerpaar Aglaia Haritz und Asiz Zerrou treffe. Über Aglaia soll ein Porträt in der Zeitung erscheinen.

16:30h – der Zug fährt kreuz und quer durch die Landschaft, hält an allen unmöglichen Orten, wir kommen kaum vom Fleck und nähern uns doch Tanger. Die Waggons stammen aus der Schweiz, wir verramschen unser altes Zeug hierhin und nennen es vermutlich Entwicklungshilfe. Diese wär auch nötig, denn schenken ist das eine, instandhalten das andere: die Klotüren gehen nicht zu, das ist besonders für die allein reisenden Frauen, die im Alltag teilweise nicht mal ihren Knöchel zeigen, ein Problem. Wenn der Mann dabei ist, dann macht er erst Vorabklärungen und holt dann seine Frau, schiebt sie ins Klo und spielt den Kerberos.


Über Entwicklung und Stillstand in Marokko (weil der Mensch auch leben muss)

Gespräch mit einem Marokkaner, der eine Firma hat, die irgendwelche Teile für den Schiffbau herstellt. Er scheint mir ein wacher Kopf zu sein, ernüchtert auch über die Politik seines Landes. Von Parteien hält er nicht viel, ob links oder rechts, die seien kaum voneinander unterscheidbar, Opportunismus herrsche vor, die Korruption sei enorm, das Land bräuchte einen Schub, der könne nicht vom Establishment kommen. Ich frage ihn, ob er eine Idee hätte, was die Entwicklung voranbringen könnte, er schüttelt den Kopf, nein, habe er nicht, aber es fehle an bürgerlichem Selbstverständnis, an Eigeninitiative und Weitsicht. Ich frage ihn nach einem Visionär, er nennt Mehdi Menjra, er initiiere internationale Kongresse zu verschiedenen Entwicklungsproblemen und rede Klartext, was Marokko betreffe.

Es scheint tatsächlich so, dass das Land nicht vorankommt. Die Leute haben trotz aller Betriebsamkeit kaum genug zum Leben. Wer will es ihnen verübeln, dass sie den Fremden schröpfen, wo es nur geht, es scheint so, dass alle nach oben oder raus aus der Armut wollen. Sogar die Angestellte des Hotels gibt deutliche Zeichen, dass sie ungebunden ist, fragt mich, ob ich verheiratet sei, will mir spätabends einen Orangenjus aufs Zimmer bringen und gibt mir beim Abschied ihre Telefonnummer. Die begüterten hier – v.a. Männer –haben doch alle ihre Konkubinen, es ist ein riesiges Puff hier, mein Sitznachbar hat zwei Handys (wir sind ja in der ersten Klasse), eines für Geschäft und Frau und ein weiteres für den Selbstbetrug. Wie viele Frauen haben das hier schon versucht, sind einige Zeit für irgend so ein Arschloch interessant, werden dann weggeworfen wie ein altes Kofferradio, wenn es dem Herrn langweilig wird und die nächste schon den Schmus macht. Eine solche Frau, auch nur einmal ihrer fatalen Hoffnung erlegen, ist für den traditionellen Heiratsmarkt unbrauchbar geworden.

Inzwischen sind wir am Atlantik und Tanger nähert sich: der Unternehmer hat mir das Restaurant des Hotels OUMNIA empfohlen. Nichts wie hin!




Tanger - im Hotel Etoile du Nord (im quartier Paris, gleich daneben die Patisserie Paris)

Das Restaurant war ein kulinarischer Tiefflug: angeblich einheimische Küche, dafür eine unbewältigbare Menge Poulet vom Drehgrill, es war schlicht grusig, alles verkocht, ohne Geschmack, ohne Liebe, zum Glück nicht so teuer, habe ¾ stehen lassen.

Das Hotel Etoile du Nord hält genau soviel, wie es verspricht, es ist einfach, etwas schäbig, mit Blick auf die pulsierende und lärmige Strasse, aber sauber und v.a. billig, 20 Euro. Hoffentlich kann ich schlafen. Davor noch die Medina hoch durch den Markt: hier noch mehr verschleierte Frauen am Shoppen als in Marrakesch, was die alles zusammenkaufen, ist fast wie bei uns, nur dass der Ramsch hier noch billiger ist.

Bin zufällig in einen Kickboxclub geraten: darf mich in den Trainingsraum setzen, der Meister treibt die Jungs (Mädchen nicht zugelassen – „seulment pour hommes“) ziemlich an, schlägt sie sogar leicht mit seinem Gurt, wenn sie die Bauchstützen nicht korrekt oder schnell genug ausführen. Er selber bewegt sich kaum.


Ouad Lau (in der Nähe der Stadt Tetouan, am Mittelmeer)

Heute Aglaia und Aziz in Tanger getroffen, im Cinéma Rif, dem legendären. Zusammen gegessen, im Café Voltaire hoch über dem Atlantik einen Tee getrunken und dann in 3 Stunden über Tetouan nach Quad Lau gefahren – 2x das Mercedes-Taxi gewechselt, 2x 30 Dirham und Aglaia mit mir vorne, weil Aziz nicht mit ihr verheiratet ist, hinten vier Leute. Man tut sich hier zusammen, arrangiert sich, die Taxis sind prallvoll.

Aglaia hat hier ein Projekt mit Landfrauen, die von den Erzeugern ihrer Kinder verlassen wurden und Terrakotta-Gefässe (z.B. Tagines) herstellen. Die Situation dieser Frauen wird hier totgeschwiegen (auch wenn eine ihren schlagfreudigen Mann verlässt, wird sie ausgeschlossen, unter Umständen wegen Ehebruch ins Gefängnis geworfen). Das Projekt besteht darin, dass die Frauen die Gefässe so verändern, dass sie unnütz werden: Schüsseln mit einem Unterbruch, Töpfe mit Fensterchen usw. das Ganze soll dann als Ausstellung herumwandern, um die Öffentlichkeit für die Problematik zu sensibilisieren.


Aus den Eingeweiden des Lebens

In Marokko kann man beispielhaft erleben, was es bedeutet, wenn ein Land in der Modernität angekommen, aber an der Schwelle zu einem Entwicklungsland steht. Hier, in Ouad Laou, wohin zwischen Juli und September offenbar zahlreiche Touristen, vorwiegend aus Spanien, kommen, wirkt vieles unbeholfen. Es wird viel gebaut, Private aus Marokko und Spanien bezahlen immerhin etwas für eines der Appartements in öden Häusern, aufgestellt in militärischer Ordnung, ohne Grün und ohne Reiz.

Das Hotel kostet mich etwa 15 Euro je Nacht, es ist einfach und einigermassen sauber. Der Angestellte ist bemüht, äusserst servil, auch er unbeholfen. Das Zimmer musste erst gereinigt werden, irgendwelche Leute hausen in den leeren Gasthäusern für vermutlich einige Dirham, es fehlt an ausreichendem Bettzeug, Frottiertuch, Toilettenpapier und Seife. Der Wirt ist am nächsten Morgen einigermassen erleichtert, als ich bestätigte, gut geschlafen zu haben. Er sieht aus wie eine blasse Kopie der schon etwas in die Jahre gekommenen Surfer an der Côte d’Azur. Ein weiterer Gehilfe mit Rastalocken bestätigt den Eindruck – man will es hier europäisch – Haschisch als Brücke zu Europa.

Das Leben in diesem Provinznest ist geprägt von Herumsitzen und Warten. Überall, wo man hinsieht, nur Männer, kaum Frauen, die versorgen Kinder und Haushalt und sorgen für ein Mindestmass an Funktionieren. Und wenn jemand sich betätigt, „arbeiten“ wäre unzutreffend, so sieht es halbherzig, verhalten aus, wie ein kalter Motor, der nicht auf Touren kommt. Es bräuchte mehr Kontinuität, um den Tätigkeiten Sinn zu geben. Sinn entsteht entweder aus dem Resultat eigener Tätigkeit, das einen Wert hat, für die Gemeinschaft oder für einen selber, oder aus der Hoffnung, dass sie das einmal haben wird – beides ist hier nicht gegeben.

Fremde werden hier begafft und in Euro gemessen. Als Tourist bezahlt man prinzipiell das doppelte oder Mehrfache, unter sich wird gedealt und heruntergemarktet. Und doch: eigentlich beschämen wir die Einheimischen mit unserer Erscheinung, mit unserer scheinbaren Eleganz und dem unverwüstlichen Outfit. Das Bewusstsein von einem besseren Leben ist ja auch hier angekommen: durch die Medien, die Touristen, durch das unerreichbare Warenangebot in den Städten und durch die Reichen. In Marrakeschs hinterster Gasse habe ich gesehen, wie ein Porsche sich durchgezwängt hat und von einem armen Schlucker bereitwillig an einen freien Platz dirigiert wurde. Ebensogut hätte man eine Schönheitskönigin in einen Kuhstall führen können. Ich weiss, der Vergleich hinkt, aber ich hoffe, man versteht, wie er gemeint ist. Eine Beleidigung kann er eigentlich nicht sein für die Kühe und deren Stall, sie sind ja nützlich, was für die Schönheitskönigin nicht gilt.

Auch bin ich der eigentlich Gierige: ich strecke meinen Blick aus wie der Bettler die Hand, um meine Seele mit Eindrücken zu füllen. Ständig hoffe ich auf mehr, auf den grossen Gewinn, auf die Geschichte – mehr noch, ich bin ein Dieb, stehle vom Reichtum der Alltagserscheinungen dieser Menschen, die ihn nicht erkennen. Wenn sie um deren Wert wüssten, ich wäre bankrott.


Quad Laou – am Strand

Am Strand kommen die Fischerboote an, hier ist Leben, alle wollen den Fang sehen und mithelfen, hier ist Würde, hier ist der Mensch ein Mensch, weil er gebraucht wird – ein kurzer Moment der Normalität, der Ausnahmezustand.

Schülerinnen und Schüler vor der Schule, spazierend am Strand, Mädchen mit Kopftuch, ein Junge wirft einer Gruppe Mädchen einen Stein hinterher, ein Mädchen flucht zurück, man lacht, man möchte sich näherkommen, das geht nur über heiraten.

France24.com verbreitet hier verfehlten Optimismus und Kommerz. Apps werden vorgestellt, eines erlaubt, sich virtuelle Brillen aufzusetzen. Ein anderes garantiert, Photos mit Text zu versehen und in Echtzeit in die Welt zu verschicken, alles soll möglich sein, hier ist wenig möglich – zum Glück?

Es werden die Windkraftwerke gezeigt, es geht aufwärts mit der Energieversorgung, Windräder hinter Schafen und Kühen. Irgendwo im Orient hat eine US-Drohne ein Wohnviertel getroffen, das wird – nicht wie bei uns - in epischer Breite gezeigt. Der Nachrichtensprecher sieht aus wie der nette Junge von nebenan. Die Moderatorin ist hübsch, hier im Café können die Männer eine Frau mit Ausschnitt und offenen Haaren ungeniert betrachten.


Ein Hauch von Sommer (Ouad Laou)


Wenn der Wind bläst, ist es hier in Nordmarokko recht kühl und ungemütlich. Doch heute ist Strandwetter und tatsächlich zeigt sich ein spanischer Bus und einzelne Touris schlendern am Strand entlang. Man könne hier bei den Preisen eine Null wegnehmen, deshalb kämen die Spanier, die sich die Ferien im eigenen Land nicht (mehr) leisten könnten. Ein Arbeiter mit Schubkarre hebt bedächtig Fetzchen von Papier auf, er wischt unentschlossen einen Quadratmeter der unendlich langen Promenade, ein marokkanischer Sysiphos ohne Ehrgeiz. In Tetouan haben wir einen alten, kleinen Mann mit starkem weissem Bart beobachtet, wie er seinen Job macht. Mit entschlossenen Bewegungen wischt er den Dreck am Strassenrand zusammen, hebt ihn auf, wartet geduldig, bis ein Auto das Stück Fläche hergibt, das er noch nicht gewischt hat. Sogar Betonkübel mit jämmerlchen Blumen darin jätet er. Sein Gesicht drückt Sicherheit und Zufriedenheit aus. Sagen wir mal, er verdient vielleicht 400 Euro im Monat, aber im Gegensatz zu anderen Jobs hier, wo Ehrgeiz nicht gefragt ist, hindert ihn niemand an seiner Arbeit. Tatsächlich sollen – nach Auskunft eines Geschäftsmanns – einem hier bei verdächtiger Eigeninitiative Steine in den Weg gelegt werden.

Schülerinnen, alle mit Kopftuch, spielen mit einer PET-Flasche Fussball, die sie mit Sand gefüllt haben, dazu 4 Steine für die beiden Tore, so einfach ist das. Die Freude, das Lachen, all das ist kindlich. wie wenig es braucht, um hinter der Fassade der Kultur hervorzutreten, sie zu vergessen, sich zu vergessen im Spiel.

Ich habe hier einen „Freund“. Jeden Tag spricht er mich mehrmals an, fragt mich, wie ich geschlafen hätte, wünscht mir einen schönen Tag. Er hat die 60 bestimmt überschritten, bei uns würde man ihn auf siebzig schätzen, doch hier altern die Menschen schneller. Sein weisses, gekraustes Haar spritzt unter seiner Mütze hervor, er hat ein offenes Lachen und zeigt dabei nur noch wenige Zähne. Er trägt einen schweren, dunkelbraunen Filzmantel, in dem er vermutlich auch schläft, zerschlissene Cordhosen, die ihm über die schäbigen Schuhe wuchern. Wie ein Wanderer hat er seine wenigen Habseligkeiten in einem Tuch verstaut, das er an einen Stock gebunden über der Schulter trägt. In den Grossstädten wird man dauernd angebettelt, auch von solchen, denen man die Armut nicht ansieht. Armut hat hier viele Gesichter, aber es ist der „echte Bettler“ (bzw. die echte Bettlerin, die in dieser Zunft genau so zahlreich vertreten ist) wirklich heruntergekommen. Mein Gefährte hat mich zuerst wie alle andern genervt, es ist ein Gemisch aus Beschämung und Aufgezwungenheit. Man fühlt sich belästigt, gleichzeitig blickt man in dieses von Entbehrung, Entwürdigung und Armut gegerbte Gesicht und fragt sich, mit welchem Recht man hier mit vollen Taschen sitzt. Oder wehren wir die Geschichte eigener Armut beiseite?

Die Wirtschaft läuft hier miserabel, man kann sich auf nichts verlassen. Algaia hatte beim Optiker in Tetouan Reinigungsflüssigkeit für ihre Kontaktlinsen bestellt. Weil das Geschäft etwas entfernt lag, schlug Aziz, ihr Freund, vor, es in irgend einem anderen der zahlreichen Optikergeschäfte in der Stadt zu kaufen. Aglaia bestand wie eine echte Schweizerin darauf, ihrer Verpflichtung dem Geschäft gegenüber, wo sie bestellt hatte, nachzukommen. Also gingen wir hin und siehe da: man hatte es verschlampt. Vier Optikerläden weiter wurde sie fündig.

Das Essen reizt zum Fasten: immer dasselbe: verkochtes Gemüse, verkochter Reis, mit schlechtem Öl vollgepumpte Pommes, verschlammter Salat – das einzig Verträgliche ist Fisch und Fleisch vom Grill. Wenn ich alleine unterwegs bin, verzichte ich öfters auf ein Menu und ernähre mich von Jus und Frappés.

Heute begleite ich Aglaia und Aziz zu den Töpferinnen. Lapna, eine Kindergärtnerin, hat die Kontakte zu den Frauen hergestellt. Sie ist taff, aufgeweckt und ganz aufgeräumt bei diesem denkwürdigen Vorgang, der den vorläufigen Abschluss und gleichzeitig den Höhepunkt bildet, weil die Handwerkerinnen ihre Produkte übergeben und Geld dafür bekommen. Es ist trist: sie töpfern den ganzen Tag und verkaufen kaum etwas. Wenn ich recht gesehen habe, kriegt jede Frau zwischen 100 und 200 Dirham für ihre Arbeit, für uns nicht viel, aber für sie ein notwendiger Zustupf. Sie leben in Lehmhütten, die aus dem selben Material sind wie die Tachines, einfachste Behausungen ohne Reiz im Innern, schmutzig, auch die Kinder: draussen hängt Wäsche, darunter ein gepflegtes Hemd, das ohne Falten trocknet. Die Männer sind meist nicht da, hocken irgendwo in den Cafes herum und tun… nichts. Die Frauen machen alles, tapfer und duldsam, auch unterwürfig. Asiz verbietet einem Mädchen, ihm die Hand zu küssen. Er zieht sie zurück, schüttelt den Kopf und sagt „je suis le roi ou bien?“. Das Mädchen guckt enttäuscht, aber auch nachdenklich. Was hat diese Geste zu bedeuten? Ist sie eine Zurückweisung ihrer Person? Erkennt es, dass sie unangebracht und entwürdigend ist?

Am selben Hof kommt eine sehr alte Frau heraus, sie ist bestimmt über 80. Das Gesicht hat viele fleischige Rundungen und ist vom Leben zerfurcht. Aber die Augen sind lebendig und aufmerksam, sie hat Witz und bedeutet mir, dass ich sie nach Europa mitnehmen soll. Alle oder eine Mehrheit wollen hier nach Europa, oder einfach weg. Vielleicht ist die Alte auch lebensmüde (des Lebens müde). Aziz posiert mit ihr, ich mache ein Photo. Man muss immer vorher fragen, es ist abgesprochen, dass die Töpferinnen nicht abgelichtet werden – ist auch recht so.

Ins Innere lassen die Frauen nur Aglaia. Als ich ein das Haus photographieren will, schliesst man die Eingangstüre zum intimen familiären Raum. Am selben Hof findet sich auch ein kleines Mädchen mit blonden Haaren, die sie zu Schwänzen seitlich hochgebunden hat, eine Art maghrebinische Pippi Langstrumpf. Auch das kleine Brüderchen hat braun-blondes Haar, einen Blick auf den Vater zeigt, wer hierfür verantwortlich ist.


Irgendwo zwischen Tanger und Casablanca, auf dem Weg nach Europa

Von Ouad Laou nach Tetouan mit Momo, der den Wagen des Institut Francais fährt, einen Citroen im Nutzfahrzeugstil. Umsteigen am Busbahnhof von Tetouan. Ich habe meine Reisetasche schon in einem der Mercedes-Taxis, man will losfahren, als ich bemerke, dass ich meine Laptoptasche bei Momo im Auto vergessen habe. Also Tasche schnell wieder raus und Aglaia eine SMS, Aziz ruft Momo an und SMS von Aglaia zurück, dass Momo schon unterwegs sei und ich mich nicht von der Stelle rühren soll. Er kommt und gibt mir meinen Laptop wieder, wir umarmen uns, ich bin glücklich. Wär’s in einem normalen Taxi geschehen, ich würde jetzt nicht tippen. Während ich auf Momo warte, beobachte ich eine Gruppe Taxifahrer, die auf einer Bank sitzen und sich über irgend etwas beugen, zwei sitzen beinahe am Boden, ich sehe, dass sie alle von einem Teller essen, mit Broten nehmen sie irgend einen Brei auf. Offenbar wirkt mein Interesse als Hunger, jedenfalls winken sie mich energisch herbei, ich solle mitessen, ich lehne dankend ab, doch da habe ich schon ein Stück Brot in der Hand, knie mich nieder und versuche vom Brei, unter grossem Gelächter, man sagt zwar, es sei Fisch, aber ich vermute, die Erregung rührt von einer kulinarischen Exklusivität, die hier verbreitet ist. Es handelt sich offenbar um Hirn. Ich bedanke mich höflich, muss nochmal zugreifen, es ist zwar nicht ausserordentlich gut, aber schmackhaft. Mir ist auch klar, dass die Taxifahrer einfach Freude hatten, dass ein Fremder von Ihrem Speisezettel probiert. Ich sage ihnen, dass es mich beeindruckt, wie sie eine Gemeinschaft bilden, die sich solidarisch verhält. Bei uns in der Schweiz sähe man ein solches Bild nicht. Mittellosigkeit erzwingt nicht, aber garantiert Zusammengehörigkeit. Oder anders: Wohlstand erlaubt den Luxus der Vereinzelung.




Flughafen Mohammed IV – Casablanca

Es gibt nichts Tristeres als Flughäfen, speziell Grossflughäfen. Man wird nicht nur mehrmals bis auf die Knochen auseinandergenommen, sondern lümmelt – weil man ja nicht zu spät kommen und mindestens drei Stunden vor Abflug eintrudeln muss – in den Duty Free Hallen herum, kauft zum Glück nichts, stopft, da man irgendwann mal Hunger hat, vielleicht auch nur aus Langeweile, Fastfood in sich hinein, geht aufs Klo, läuft die endlosen Gates entlang, um zu erfahren, dass der Flug drei Stunden vor Abflug bereits eine Stunde Verspätung hat. Es wäre schneller gewesen, von Tanger aus mit der Fähre nach Europa überzusetzen und dann mit den Hochgeschwindigkeitszügen nach Norden zu fahren. Wenigstens sieht man hier auch wunderschöne Menschen aus allen Teilen dieser Welt, besonders aus Afrika. Eine Frau tippt in der Warteschlange beim Boarding beängstigend schnell SMSs und fliegt von einem App zum andern, als handelte es sich um einen Geschicklichkeitstest.

Nun im Flugzeug, 2,5 Stunden angeblich, und hoffentlich. Hinter mir schlagen die Kinder ständig an den Sitz, die Mutter schläft, neben mir sitzt ein unglaublich grosser und kindischer Jugendlicher mit seinem Grossvater oder Onkel, sie rammeln ständig, klauben sich ins Knie, stossen sich, dabei muss der Junge ständig aufs Klo, offenbar ist er am dehydrieren, sein Opa oder was bestellt ihm regelmässig Gratiswasser, um das sie sich streiten – es ist zum Kotzen. Der Alte scheint ein Kettenraucher zu sein, das verrät sein krächzendes Lachen, er buhlt um den Jungen, dass man glauben könnte, er habe sein Leben verpasst und suche es durch sein kindisches Verhalten beim Jungen. Immerhin haben wir jetzt die italienische, vermutlich ligurische Küste erreicht und befinden uns im Sinkflug. Also kaum vom Mittelmeer weg, ein paar Berge und schon ist man in Mailand.

Von Malpensa aus fährt ein Zug direkt ins Tessin. Die Fahrt am Lago Maggiore entlang, der See, die noch schneebedeckten Berge, ist das alles wirklich?




Flughafen Mohammed IV – Casablanca

Es gibt nichts Tristeres als Flughäfen, speziell Grossflughäfen. Man wird nicht nur mehrmals bis auf die Knochen auseinandergenommen, sondern lümmelt – weil man ja nicht zu spät kommen und mindestens drei Stunden vor Abflug eintrudeln muss – in den Duty Free Hallen herum, kauft zum Glück nichts, stopft, da man irgendwann mal Hunger hat, vielleicht auch nur aus Langeweile, Fastfood in sich hinein, geht aufs Klo, läuft die endlosen Gates entlang, um zu erfahren, dass der Flug drei Stunden vor Abflug bereits eine Stunde Verspätung hat. Es wäre schneller gewesen, von Tanger aus mit der Fähre nach Europa überzusetzen und dann mit den Hochgeschwindigkeitszügen nach Norden zu fahren. Wenigstens sieht man hier auch wunderschöne Menschen aus allen Teilen dieser Welt, besonders aus Afrika. Eine Frau tippt in der Warteschlange beim Boarding beängstigend schnell SMSs und fliegt von einem App zum andern, als handelte es sich um einen Geschicklichkeitstest.

Nun im Flugzeug, 2,5 Stunden angeblich, und hoffentlich. Hinter mir schlagen die Kinder ständig an den Sitz, die Mutter schläft, neben mir sitzt ein unglaublich grosser und kindischer Jugendlicher mit seinem Grossvater oder Onkel, sie rammeln ständig, klauben sich ins Knie, stossen sich, dabei muss der Junge ständig aufs Klo, offenbar ist er am dehydrieren, sein Opa oder was bestellt ihm regelmässig Gratiswasser, um das sie sich streiten – es ist zum Kotzen. Der Alte scheint ein Kettenraucher zu sein, das verrät sein krächzendes Lachen, er buhlt um den Jungen, dass man glauben könnte, er habe sein Leben verpasst und suche es durch sein kindisches Verhalten beim Jungen. Immerhin haben wir jetzt die italienische, vermutlich ligurische Küste erreicht und befinden uns im Sinkflug. Also kaum vom Mittelmeer weg, ein paar Berge und schon ist man in Mailand.

Von Malpensa aus fährt ein Zug direkt ins Tessin. Die Fahrt am Lago Maggiore entlang, der See, die noch schneebedeckten Berge, ist das alles wirklich?


Zurück