„NGO-Country“ Bericht über die Westbank (Westjordanland) im Oktober 2013 © Roger Staub

„I wanne be a tourist in my own country“

„Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Antoine de Saint-Exupery (Werk: Die Stadt in der Wüste / Citadelle)

Blickt man vom Balkon der gemieteten Wohnung auf Beit Jala, so könnte man meinen, irgendwo an einem Touristenort in Apulien zu sein. Abgesehen von den plärrenden Gebeten der Moschee und den bellenden Hunden ein ruhiges Fleckchen auf der Westbank nahe Bethlehem, dem Geburtsort von Jesus. Man ist angekommen, hat die Sicherheitsfragen bei der Einreise am Tel Aviver Flughafen - die so spärlich waren, dass man nicht lügen musste - und den Kontrollpunkt am Damaskustor in Jerusalem unbeschadet überstanden. Der laue Oktoberwind streicht durch die reifen Olivenbäume, bald ist Ernte. Beim Thaibeh-Bier hört man in die rauschende Stille des Abends hinein, betrachtet das schwindende Tageslicht und die Lichter, die sich nun stärker werdend den Hügel hinunter und gegenüber wieder hinauf ziehen. Alles ganz ordentlich, die Häuser, die Strassen, die zahlreichen christlichen Kirchen und die Moscheen. Aber etwas irritiert. Gegenüber auf dem Hügelkamm sind die Lichter greller und dichter, daneben der einzige dunkle Fleck, darunter ein beleuchtetes Band, das sich dem Hügel entlang zieht. Später wird man begreifen, dass es sich um die illegalen Siedlungen handelt, um fruchtbares, konfisziertes Land für die Siedler, und um die Mauer, die sich in opportunistischen Windungen darum herumschlängelt. Nach wenigen Tagen wird man gewöhnliche Häuser nicht nur von Siedlerhäusern, sondern auch von Flüchtlingssiedlungen unterscheiden können. Die palästinensischen Häuser sind solide Bauten aus dem örtlichen weissen Stein, die Häuser in den Flüchtlingscamps sind patchworkartig an-, auf- und ineinandergefügte Quader aus allerlei Materialien, mit Zement zusammengehalten. Die jüdischen Siedlungen erinnern an Blocksiedlungen oder Reihenfamilienhäuser bei uns – aus Fertigteilen hastig zusammengeschoben.


„Was? Nach Palästina?“

Schon im Vorfeld der Reise nach Palästina warnten die besser informierten Freunde: „Was? Nach Palästina? Pass auf, das ist gefährlich!“. Die schlecht informierten oder die sich bewusst Schonenden zeigten sich erstaunt: „Ist da nicht Krieg?“. Dabei ist eine spätsommerliche Autorfahrt an die dalmatische Küste wesentlich risikoreicher als eine Reise ins gelobte Land. Honduras, von wo Beat Sterchi berichtete (siehe „REPORTAGEN 13“), das ist ein gefährliches Pflaster, aber Palästina eigentlich nicht, wenn man ein paar Regeln beachtet, die verhindern, dass man zwischen die feindlichen Linien gerät.

Es gibt eine grundlegende Erkenntnis, welche man vor Ort gewinnen kann: Israel hat die vermutlich höchsten Sicherheitsstandards weltweit: überall Checkpoints, Strassensperren, Militär, Luft- und Seekontrolle über ganz Palästina, und eine Mauer, die sich inzwischen auf über 700 Kilometer durch das besetzte Westjordanland hinzieht – trotzdem ist Israel der Gut- oder Böswilligkeit der Palästinenser ausgeliefert. Über eine Million arabische Israeli mit Wohnsitz in Israel und Verwandten in der Westbank, tausende von palästinensischen „Gastarbeitern“, passieren täglich die Checkpoints zwischen Westbank und Israel. Palästinenser versichern, dass es ein Leichtes sei, durch Schlupflöcher heimlich nach Israel zu gelangen. Da hilft es auch nichts, dass Hunderttausende seit den Aufständen der Intifada gar nicht mehr nach Israel einreisen dürfen. Sie sind ein sogenanntes „Sicherheitsrisiko“, wenn sie in Israel erwischt werden, wandern sie ins Gefängnis. Und doch wären sie jederzeit da, wenn sie es denn wollten.


„Sicherheitsrisiko“

Hamed ist ein solches Sicherheitsrisiko. Er beneidet mich: „I wanne be a tourist in my own country“, und lacht. Sein Humor lässt Zweifel an der Gefahreneinschätzung der Israeli aufkommen. Hamed kann sich nicht über die Westbank nach Westen hinaus bewegen. An den israelischen Checkpoints innerhalb des Westjordanlandes - die Israeli kontrollieren nach wie vor 60 % davon direkt - muss er unwürdige Kontrollen über sich ergehen lassen. Während der ersten Intifada Ende der 80er Jahre habe er mit Bekannten aus der Gemeinde mehrere Treffen organisiert mit dem Ziel, das Müllproblem endlich zu lösen. Da Israel ein allgemeines Versammlungs- und Organisationsverbot über der Westbank verhängt hatte, wurde Hamed wie viele andere Palästinenser der konspirativen Tätigkeit im Dienste des Widerstands bezichtigt und über Nacht kriminell. Dass sich Hamed für den Müll stark gemacht hat, beschert ihm eine Menge Widrigkeiten. Vielleicht auch, weil er für eine Organisation arbeitet, die sich um die Rechte der Palästinenser bemüht. So sieht man es nicht gerne, wenn er nach Europa fliegt. Da ihm der Ben-Gurion-Flughafen von Tel Aviv auf ewig – oder bis zu einer echten politischen Lösung – verwehrt ist, muss er ins 80 Kilometer entfernte Amman fahren. Schlagbäume ausgenommen schafft man das in maximal zwei Stunden, Touristen überwinden die Strecke samt Kontrollen in maximal fünf Stunden. Bei Hamed ist das nicht so einfach. Wenn er es in zehn Stunden schaffe und den Flug nicht verpasse, könne er von Glück reden. Seine Freunde witzeln an den Checkpoints: er sei jeweils der erste, der das Tor öffne, und der letzte, der es schliesse.

Sein Bericht, wie er, um auf eine der zahlreichen internationalen Konferenzen in Europa zu gelangen, von Beit Jala über Jericho (über Jerusalem darf er nicht) zum Flughafen von Amman gelangt, dürfte selbst Surrealisten überraschen. Es dauerte bestimmt zwanzig Minuten, bis mir der beispielhafte Ablauf in seiner ganzen Dimension klar war. Seine Schilderungen sind peinlich genau, sie folgen einer Choreographie von Zeit und Geld:

Zuerst fährt Hamed mit dem Sammeltaxi (für 10 Euro) oder dem Einzeltaxi (40 Euro) nach Jericho. Dort werden seine Papiere von den palästinensischen Behörden kontrolliert. Er nimmt einen ersten Bus und fährt mit diesem (für 5 Euro) ca. 300 Meter bis zum israelischen Checkpoint. Dort wird er auf Messer, Bomben und Butterbrot geprüft (Dauer zwischen 20 und 120 Minuten). Mit einem zweiten Bus (10 Euro) fährt er 600m weiter zu einem zweiten israelischen Checkpoint, an dem der übliche Verkehr hält. Der Bus wird nur von aussen geprüft (Dauer 10-40 Minuten). Der Bus fährt 500m weiter, bis er vor einem Kontrollhäuschen hält, in dem meist eine weibliche Sicherheitsperson sitzt und den Bus zwischen 30-60 Minuten ignoriert, bis sie ihn durchlässt. Hamed beschreibt die geduldigen, auf die Beamtin gerichteten Blicke der Passagiere. Nun fährt man bis zum eigentlichen Checkout der Israeli, der wie ein gewöhnlicher Grenzposten aussieht. Man steigt aus dem Bus und sitzt oder steht für Stunden, bis man aufgerufen wird. Wenn man Glück hat, erhält man einen Ausreisestempel (Taxe 53 Euro) mit der Bemerkung „o.k. go – have a nice trip“. Wenn Hamed Pech hat, heisst es „go back, you’re not allowed to leave Palästina.“ Weiter geht’s mit einem dritten Bus 300m (5 Euro) bis „zum Müllhaufen“, so nennen die Palästinenser den Berg von teilweise geöffneten oder nachlässig verschlossenen Koffern, die unzimperlich kontrolliert wurden. Hier gibt’s ein Gerangel, bis jeder seine Habseligkeiten – oder das, was davon übriggeblieben ist – in Händen hält. Der vierte Bus (5 Euro) bringt Hamed zur jordanischen Grenze. Wer glaubt, Araber verständigten sich mit Arabern leichter, liegt falsch. Auch hier geht der Hürdenlauf weiter. Mindestens eine Stunde warten, dann Befragung – Daumen rauf oder Daumen runter – im übelsten Fall Arrestierung. Hamed wurde von der jordanischen Grenzpolizei bereits zweimal inhaftiert, einmal für sieben Tage. Bei der Einreise erhält Hamid einen Stempel im Pass (Gebühr 12 Euro). Mit dem Taxi geht’s zum Airport (55 Euro). Falls die Aus- und Einreiseformalitäten zügig voran gingen, erwartet einen am Flughafen von Amman eine Negativbelohnung. Man darf nämlich frühestens zweieinhalb Stunden vor Abflug den Flughafen betreten. Herumlungern davor ist auch nicht empfehlenswert – besonders bei Sommertemperaturen. Die Jordanier verdienen meist wenig – sie zocken Jeden ab, auch Palästinenser. Mit Gebühren, mit teuren Einzeltaxis und – wenn man das Glück hatte, bis zum Flughafen zu kommen, allerdings den Flug verpasst – europäischen Hotelpreisen: das heisst nochmal 30 Euro vom Flughafen bis ins Hotel von Amman, 50 Euro für ein billiges Hotel, 30 Euro vom Hotel zum Flughafen zurück. Mit Glück legt Hamed bis zum Flughafen 150 Euro hin, wenn er Pech hat, 300 Euro. Zudem muss er umbuchen. Auch die Not ist ein lukratives Geschäft: ein Flug von Amman nach Deutschland kostet ca. 700 Euro. Hameds Frau ist Deutsche – Hamed hat also auch einen deutschen Pass, was ihm wenig nützt. Zum Vergleich. Hamed ist seit 05.30 Uhr auf den Beinen, um den Flug nach Frankfurt um 19 Uhr zu erwischen. Seine Frau Gisela ist um zehn Uhr aufgestanden und verlässt die gemeinsame Wohnung ca. 14 Uhr. Die Fahrt über Jerusalem zum Flughafen Ben Gurion dauert maximal zwei Stunden und kostet mit dem Sammeltaxi 15 Euro. Der Flug hin und zurück kostet sie bei Frühbuchung 300 Euro. Wenn sie gegen Mitternacht auf dem Frankfurter Flughafen ankommt, wartet sie den Flug aus Amman ab, bevor sie ins Hotel geht. Wenn ihr Mann dann nicht kommt, weiss sie, dass etwas schiefgegangen ist. Das Beispiel zeigt, wie gefährlich Müllentsorgung ist. Hamed ist bei aller Schikane noch privilegiert. Er kann ab und zu das Ghetto durch die Hintertür verlassen. Die meisten Palästinenser können sich höchstens ein One-Way-Ticket nach Chile leisten. Allein die Region um Bethlehem soll so etwa 100'000 Einwohner an Chile verloren haben.


Von Mauern und Schlagbäumen

Die Palästinenser, ob Christen oder Moslems, sind Gefangene im eigenen Land, genauer, auf dem Teil, der ihnen geblieben ist und der etwa der Grösse des Kantons Bern entspricht.

Sie leben unter Besatzungsstatut, es gilt in fast allen Bereichen die israelische Militärverordnung. Auch wenn dies kräftig dementiert wird, in Wirklichkeit gibt es die „palästinensische Selbstverwaltung“ nicht: die Westbank ist in drei Zonen unterteilt: die Zone C (60%) kontrollieren die Israeli vollkommen. Sie umschliesst und perforiert die Westbank. Die Zone B (ca. 20%) wird „gemeinsam“ verwaltet und die Zone A durch die Palästinenser. Doch die letzten Entscheidungen über wirtschaftliche und rechtliche Belange treffen auch hier die Israeli.

Wenn sie einen Brunnen errichten wollen, brauchen sie die Genehmigung der israelischen Militärverwaltung, ausgestellte Pässe sind reine Makulatur, wenn sie nicht von Israel bestätigt werden. Wenn ein Palästinenser aus Hebron zum Beispiel seine Braut in Nablus besuchen will, muss er mehrere Checkpoints passieren, eine Genehmigung vorweisen und kann, wenn er Pech hat, wieder umkehren. Das libidinöse Bedürfnis eines Palästinensers mit Braut im besetzten Ostjerusalem vermag die israelischen Behörden nicht zu erweichen. Für einen Palästinenserin aus Bethlehem sind ihre Verwandten in Gaza ebenso weit entfernt, wie einst für einen Westdeutschen aus Frankfurt seine Angehörigen in Leipzig.

Eine erhellende Erkenntnis beim Besuch vor Ort ist auch, dass es „das palästinensische Volk“, wie es bei uns in Einhelligkeit medial vorgeführt wird, gar nicht gibt. Die 3% Christen – die meisten leben im Raum Bethlehem - sind nicht immer gut aufgenommen, nicht nur aus konfessionellen Gründen, sondern auch, weil sie von den christlichen Kirchen weltweit „gehätschelt“ werden. Die Palästinenser kennen grosse soziale Spannungen unter sich: da ist eine reiche Oberschicht, die sich optisch durch prunkvolle Auftritte nach westlicher Art vom Pöbel abhebt. Es fliesst viel Geld nach Palästina, vor allem aus Geberländern, aber auch von palästinensisches Millionären aus dem Ausland. Damit wird kräftig in den Bausektor investierst – beinahe der einzig verbliebene Wirtschaftssektor. Die Grundmaterialien, vor allem Steine, müssen immerhin nicht aus Israel importiert werden. Auch eine Zusammenarbeit mit der palästinensischen Regierung kann sich lohnen – die Korruption blüht. Praktisch am gegenüberliegenden Pol der Existenz gibt es die palästinensischen Flüchtlinge, die seit 1948 in Camps leben. Sie mag man nicht nur nicht, weil sie als Fremde wahrgenommen werden, sondern auch, weil sie Wasser und Elektrizität gratis erhalten und die Kinder in den UN-Schulen kostenlos unterrichtet werden. Dann gibt es die Palästinenser, die entweder in Israel wohnen oder in der Westbank, aber in Israel arbeiten. Besonders diejenigen, die bei Siedlern auf den Plantagen oder als Putzpersonal angestellt sind, sind schlecht angesehen. Ah ja, da wären noch die Beduinen am äussersten Rand der Gesellschaft, die in Hütten oder Zelten leben.


„realistisches Theater“

Faris ist Christ ohne Sicherheitsrisiko und 22 Jahre alt. Auch er ist ein Gefangener im eigenen Land. Wenn er Glück hat, kriegt er zweimal im Jahr eine Genehmigung, um nach Jerusalem zu fahren: an Ostern und an Weihnachten. Sein Vater ist Bauer, hat drei Töchter und zwei Söhne. Ausser Faris haben alle studiert oder studieren noch. Zwar drängt ihn der Vater, endlich mit dem Studium anzufangen, doch Faris will warten, bis der älteste Bruder sein Studium abgeschlossen hat. Bis dann arbeitet er weiter in dem kleinen Lebensmittelladen. „We live here like animals. The Arabs call us also animals.“ Ich sitze mit Firas im Restaurant neben seinem Laden. Man hat Sicht auf Strasse und Kreuzung, wo praktisch jeder vorbeikommt. Saba, der junge Wirt, macht wunderbare Mezze (orientalische Vorspeisen) und Lammspiesse vom Grill. Saba hat einen Hochschulabschluss in Hotelwesen, aber zwei Preise summiert er mit dem Taschenrechner, mal kostet dasselbe 30, mal 50 Schekel. Englisch spricht er kaum. Sein unruhiges Wesen und die glasigen Augen verraten, dass er nicht nur an der Wasserpfeife zieht. Überhaupt nehmen es viele Moslems hier nicht so genau mit den religiösen Vorschriften. Neben dem Restaurant befindet sich ein Spirituosenladen, der ständig frequentiert wird.

Hier, mitten an einer Kreuzung in Beit Jala, erfährt man mehr über das Leben als in Bethlehem, wo die christlichen Pilger aus der ganzen Welt die Geburtskriche von Jesus oder die „Milchgrotte“ besuchen, wo Maria angeblich gestillt hat und sich heute die Frauen etwas von dem weissen Sand in den Mund schieben, um ihr Milchkontingent zu erhöhen.

Faris übertrifft mit seinen Kommentaren zum Theater, das gerade vor dem Restaurant stattfindet, alle Befürchtungen. Ja, 80 % der jungen Männer nähmen Drogen, behauptet er, sie kifften und schluckten Ecstasy, das sei billig. Es fällt auf, dass am Abend die Strasse den Männern gehört – Frauen sieht man nach Einbruch der Dunkelheit kaum. Die seien zuhause, versorgten die Kinder. Meist ist eine Frau mit zwanzig verheiratet und hat bereits Kinder (4-5 je Frau). Wer mit dreissig noch ledig ist, muss fürchten, es für immer zu bleiben oder einen alten Witwer heiraten zu müssen. Einen hohen Prozentsatz bilden Jugendliche unter 20 Jahren. Fast alle besuchen eine Hochschule, viele nutzen die ihnen verbliebene Gelegenheit und lassen sich gut ausbilden.

Ständig halten klapprige oder teure Autos vor Sabas Essbude, Männer steigen ein und aus, klatschen sich in die Hände, umarmen sich, demonstrieren Männlichkeit, indem sie beim Davonfahren beschleunigen. „Guck mal“, sagt Faris, „das ist Ali, der Fleischhändler, den ich dir gestern im Laden vorgestellt habe.“ Ich erkenne den fülligen Mann mit Glatze, dem kindlich-gutmütigen Blick, der kleinen Stupsnase und den gewaltigen Oberarmen. „Jetzt wird er gleich zu dem Auto mit israelischem Kennzeichen gehen, das gegenüber gehalten hat.“ Und tatsächlich: Ali geht zum Wagen, dort wird eine Scheibe ein Stück heruntergelassen, Ali dreht sich kurz in alle Richtungen und dann zur Scheibe. „Jetzt verhandelt er den Preis, vermutlich wird er einsteigen.“ Mir ahnt, was Firas mir sagen wird. „Sharmuta (arabisch für Hure). They come from Israel to the Westbank for business.“

Die hohe Arbeitslosigkeit besonders unter jungen, oft auch gut ausgebildeten Männern und Frauen ist eines der Kernprobleme in Palästina und führt zu einer kollektiven Tristesse. Faris Laden hat eine spärliche Auslage, Frischware fehlt, obwohl sein Vater Bauer ist. Oft kommen Jugendliche vorbei und dealen mit ihm, damit er ihnen etwas ohne Bezahlung überlässt. Offene Armut oder Verwahrlosung sieht man hingegen kaum, in Berlin habe ich mehr Bettler gesehen als in Palästina und Israel zusammen.

Ich wollte von Hamed wissen, wie eigentlich Palästina wirtschaftlich überlebt. Es gibt kaum Industrie, alles muss über Israel eingeführt werden, sogar das ägyptische Benzin, das nach dem israelischen Zuschlag 2.5$ / Liter kostet. „We are a big NGO!“ lacht er. Durch die internationale humanitäre und Entwicklungshilfe wird Palästina künstlich am Leben erhalten – käme das Geld nicht, müsste Israel für alle öffentlichen Dienstleistungen aufkommen und hätte zudem ein Prestigeproblem: mit Zuständen, wie sie dann herrschten, müsste man vom Westjordanland als einem riesigen Ghetto sprechen, das unter völliger militärischer Kontrolle steht. Das sichtbarere Leiden würde an dunkle Zeiten gemahnen.

Freilichttheater – 2. Auftritt. Faris zeigt auf eine ältere, füllige Dame, die mit unsicheren Schritten die männerdominierte Strasse entlanggeht. Sie trägt Hausschuhe und einen Trainer mit der Aufschrift „I like pink“. „She is a doctor and crazy. Wait.“ Faris ruft sie herbei. Als sie vor der Terrasse steht, wo wir sitzen, mustert sie mich mit zusammengekniffenen Augen kritisch. Where do you come from?, fragt sie. – from Switzerland – what are you doing here? – holidays – what kind of holidays? – I want to know, how people lives under difficult circumstances. Die Antwort scheint ihr zu gefallen, sie setzt sich zu uns und bestellt eine grosse Flasche Wasser, die sie an sich drückt wie ein Kleinkind, dann erzählt sie. Von ihrer karibischen Mutter und ihrem arabischen Vater, von ihrem Heimatort Beit Jala, von ihrer Ausbildung in Texas, wo sie als Ärztin arbeitete, bevor sie wieder hierhin zurückkehrte. Hier laufe nichts, die ärztliche Versorgung sei miserabel, sie müsste sich die Zähne richten lassen (sie zieht die Lippen auseinander und zeigt mir ihr perforiertes Gebiss), aber man habe sie schon einmal falsch behandelt, zudem fehle das Geld. Man gebe ihr nichts. Sie sei einmal schön gewesen. Ob ich sie hässlich fände? Ihr fielen die Haare aus, sie sei dick. Ihr Leben hätte keinen Sinn mehr, sie sei jetzt 55, es sei aus und sie hier gefangen. Die Araber seien Nichtsnutze und hassten die Christen, sagt sie am Ende. „We have a lot of problems with the Arabs“. Den Satz habe ich schon zweimal in Variationen gehört. Zum ersten Mal vom israelischen Taxifahrer, der mich von Ben Gurion Airport nach Jaffa gefahren hat. Er sagte „we have some problems with the Arabs“, dann von Ibrahim, dem palästinensischen Taxifahrer, mit dem ich zum Toten Meer gefahren bin. Er sagte „We Arabs have a lot of problems.“ Trügerische Sprachharmonie.

3. Auftritt: ein grosser Mercedes hält gegenüber vor dem Laden mit Kitsch aus China. Zwei Palästinenserinnen, total aufgedonnert, steigen aus, die Männer bleiben sitzen und rauchen. Die Schlanke hilft einer Fülligen aus dem Fond heraus. Im Laden probieren sie allerlei Wäsche und Schmuck, hängen sich den Ramsch gegenseitig um, testen vor dem Spiegel die Wirkung und decken sich kräftig ein. Einer der Männer in modisch-eleganter Kleidung steigt aus dem Wagen – im Gegensatz zu allen andern grüsst er keinen. Er geht in den Spirituosenladen, kommt mit zwei Flaschen zurück. Die Frauen haben ihre kommerzielle Notdurft inzwischen verrichtet und wippen zum Auto, nicht ohne sich der umstehenden Blicke zu vergewissern. Fast wähnt man sich in Italien und an einer der kitschigen Shows in Berlusconis Sender.


Und die Israeli?

Als ich auf dem trostlosen Flughafen von Istanbul auf den Anschlussflug nach Tel Aviv wartete und vor dem Starbuck-Café hin- und herschlenderte, wurde ich Zeuge einer unterhaltsamen Begebenheit. Eine israelische Familie, Ehepaar, zwei fast erwachsene Töchter sowie ein Nachzügler, stritt sich mit der Direktorin – zu recht! – über den unverschämten Preis von 35 Euro für vier Kaffees und ein Getränk für den Jungen. Die ruhige, aber beharrliche Argumentation des Vaters – er musste seine impulsive Gattin mehrmals zurückhalten – beeindruckte mich. Obwohl die sichtlich überforderte Direktorin sich mit einer Rückgabe von zehn Euro aus der Affäre zu ziehen versuchte, würde er sich, wie er mir versicherte, an entsprechender Stelle beschweren. Wir sprachen noch über die ungerechte Behandlung dieses Konzerns gegenüber den Kaffeebauern und der Farce von deren „fair trade-Strategie“. Kurz, wir waren uns einig und die Mutter schenkte mir ein Lächeln und das Prädikat „good guy“. Doch das Gefühl von Anerkennung trübte sich sogleich beim Gedanken, ob das echte Gerechtigkeitsempfinden von eben auch noch Geltung hätte, wenn wir uns über die Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten unterhalten würden. Vielleicht hätte es auch hiervor nicht Halt gemacht, aber ich wollte mein erstes Gefühl der Sympathie gegenüber einer israelischen Familie nicht durch eine unüberlegte Diskussion entkräften. Wie dem auch sein: von dem gehässigen Umgang der Israeli untereinander und gegenüber Fremden, von denen Hendrik M. Broder spricht, habe ich nichts gemerkt: im Gegenteil: wo immer ich in Unkenntnis der Gegebenheiten jemanden um Hilfe bat, man begegnete mir stets mit offener Freundlichkeit. Ich hatte kein einziges Mal den Eindruck, nicht willkommen zu sein – dem Westeuropäer wird mehr Offenheit entgegengebracht als den über eine Million Arabern mit israelischem Pass. Diese seien, erklärte mir der israelische Taxifahrer bei meiner Ankunft in Tel Aviv, undankbar und stimmten in der Knesset stets gegen das israelische Volk. Wir Europäer seien durch die Medien desinformiert und wüssten gar nicht, was hier eigentlich ablaufe. Ich bedankte mich für die Hinweise, indem ich seine Schilderungen ebenso widerspruchslos hinnahm wie den überrissenen Fahrpreis.


„von einseitigen Schuldzuweisungen“

Man trifft selten auf ein so multikulturelles Volk wie die Israeli es sind: sommersprossige Rothaarige, Mischlinge aus Lateinamerika, selbstbewusste Schwarze, Maghrebiner, Äthiopier, ost- und westeuropäische Juden, Südafrikaner, russische Einwanderer, die kein Wort Hebräisch sprechen – Israeli aus allen Ecken der Welt: Jeder hat eine interessante Geschichte. Nachdem die Juden über Jahrhunderte hinweg sich in aller Welt verteilt und vermischt haben, sind viele von ihnen hier gelandet – in Palästina. Selbst einmal Verstossene, die nun selber verstossen: das Volk der Palästinenser, aus dem eigenen Land, nun eingepfercht zwischen Jordan und Jerusalem, verbannt vom Meer, verdammt zu Untätigkeit, Bewegungslosigkeit oder zum Spiessrutenlaufen entlang einer acht Meter hohen Mauer, gemassregelt und entwürdigt durch Checkpoints, Wasserentzug, Einfuhrzölle, Fremde im eigenen Land und und und..... ja, jetzt wird’s langweilig, weil das allbekannt ist. Und doch: öfters, wenn man von der Besatzungsrealität berichtet, wird einem vorgeworfen, man würde den Israeli einseitig die Schuld zuschieben, die Palästinenser seien auch keine Lämmchen, schliesslich hätten die Israeli 1947 einen schweren Stand gehabt und seien angegriffen worden, zum Streiten brauche es immer zwei und noch mehr an sprichwörtlichen Weisheiten, denen man nur ein paar bescheidene Fakten entgegenhalten kann, die zwar je nach Perspektive schwanken, aber in solchem Masse übereinstimmen, dass sie das Recht auf persönliche Interpretation disziplinieren. Stellt man 1947, 1967 und 2013 nebeneinander und betrachtet jeweils die braunen Flecken, die das Gebiet der Palästinenser bezeichnen, so meint man, Gletscherkarten unter dem Einfluss der Klimaerwärmung vor sich zu haben. 1917 lebten auf dem heutigen Gebiet von Israel und Palästina etwa 8 % Juden, der Rest waren Palästinenser. Heute leben auf dem Gebiet Israels, das etwa halb so gross ist wie die Schweiz, 8 Millionen israelische Bürger, davon ein Fünftel Araber. In den palästinensischen Teilen – bestehend aus Westbank und Gaza und etwa so gross wie der Kanton Bern – leben heute 4.5 Millionen Palästinenser (3.8 Mio. in der Westbank, 1.7 Mio. im Gazastreifen). Von diesen 4.5 Mio. sind beinahe die Hälfte Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Israel. Noch einmal fast 6 Millionen Palästinenser leben in der Diaspora in anderen – vorwiegend arabischen - Staaten. Seit 1991 hat Israel mehr als einer Million Einwanderern die israelische Staatsbürgerschaft verliehen – viele davon wurden im palästinensischen Kerngebiet angesiedelt. Alleine in der Westbank gibt es 120 illegale Siedlungen, dazu über dreissig neue im Raum Jerusalem, in denen rund 530'000 Siedler leben. Ostjerusalem wurde 1980 trotz internationalem Protest „eingemeindet“. Bis heute missachtet Israel über 200 UNO-Resolutionen. Zu den Unruheherden müssen auch die – selbst nach israelischem Recht illegalen - „Outposts“ gerechnet werden, sogenannte Sicherheitsposten, welche die Siedler mit Duldung der israelischen Behörden auf palästinensischem Gebiet errichten. Allein schon die Siedlerpolitik der israelischen Regierung erlaubt den Palästinensern in der Westbank weder Bewegungsfreiheit noch Autonomie.

Die Idee der „einseitigen Schuldzuschreibung“ bewegt sich in moralischen Kategorien, eine nüchterne Sicht auf die Fakten bürdet der Besatzungsmacht Israel allerdings die Hauptlast der Verantwortung für diesen Konflikt auf. Nicht dass eine moralische Betrachtung abwegig wäre. Aber dabei sollte man auch über ein gewisses Mass an Phantasie verfügen: wie würden wir wohl reagieren, wenn in unserer Nähe erst eine illegale Siedlung entstünde, gefolgt von Aussenposten, die mit Zäunen miteinander verbunden werden. Nehmen wir an, dass der Zaun nicht nur fruchtbares Land, sondern auch noch eine Quelle einschlösse, welche wir über Generationen hinweg nutzten, dass wir den Zaun öffneten, um an unsere Quelle zu gelangen, die Siedler, die im Gegensatz zu uns (auf fremden Gebiet – sic!) Waffen tragen dürfen, uns vertreiben würden, vielleicht flögen ein paar Steine und Schüsse fielen. Spätestens jetzt bestünde für die extraterritoriale Verwaltung die Notwendigkeit, ihre Bürger zu schützen – das Gebiet würde also kurzerhand zur militärischen Zone erklärt und schliesslich nach einiger Zeit den Siedlern zur Nutzung übergeben. All das ist palästinensische Realität und eben um solch „erworbenes Land“ rankt sich die 6-8 Meter hohe Sperrmauer, mit über 700 Kilometer bereits doppelt so lang wie die „natürliche“ Grenze zum Westjordanland, welche beim Waffenstillstand 1947 festgelegt wurde.


„In Abrahams Schoss“

In Hebron zeigt sich die Absurdität der israelischen Besatzungspolitik besonders deutlich. Von Norden her nähern wir uns der Vorstadt. Hier wird viel und ständig gebaut, die Stadt wächst schnell und ist mit geschätzten 500’000 Einwohnern nach Gaza-City die zweitgrösste in der Westbank. Said, mein Fahrer, erkundigt sich unterwegs mehrmals über die Lage in der Stadt und nimmt einen Ortsansässigen mit, der die örtlichen Gegebenheiten kennt. Als wir uns dem Zentrum nähern, bleiben wir im zähen Verkehr fast stecken. Said telefoniert mit einem Bekannten, der uns einige Minuten später einen Parkplatz mitten im Zentrum zuweist. Bunte Geschäftigkeit vor modernen, hässlichen Betonbauten. Je mehr wir uns auf der Hauptgasse in die Altstadt hinein bewegen, desto spärlicher wird das Treiben. Nach ein paar Minuten keine Händler mehr. Dafür Netze, die über die Gasse gespannt sind und auf denen Essensreste, Fussbälle, Bierflaschen, Kleiderbügel usw. liegen. Die palästinensischen Bewohner haben die Netze gespannt, um sich vor dem Müll zu schützen, den die Siedler, die sich auf den Dächern der alten Häuser mit Zäunen, Wachtürmen und Kameras eingenistet haben, gezielt herunterwerfen. Siedler begannen bereits in den sechziger Jahren, Teile der Altstadt zu besetzen. Bis heute wurden zwanzig Prozent der Altstadt quasi enteignet, über 2000 palästinensische Händler aus den Gassen vertrieben.

Als wir tiefer in die nun fast leere Gasse eindringen, befinden wir uns plötzlich vor einer Eisenschranke mit Drehkreuz, der israelische Checkpoint, dahinter der Bezirk der Siedler und das Gotteshaus mit dem Grab Abrahams. Hier ist Endstation für die meisten Palästinenser, nur wer einen gültigen Passierschein hat, kann weiter. Als Tourist darf ich das. Der Soldat winkt mich gelangweilt durch. Nun öffnet sich die Altstadt, eigentlich müsste man sagen, die Geisterstadt. Nichts von der pulsierenden Hektik auf der anderen Seite Hebrons. Alte Häuser, Grünanlagen, unbelebte Gassen, Touristen, Siedler und Soldaten. Ein orthodoxer Jude betet vor der Mauer der Gotteshaus. Der kirchliche Bau wurde im 12. Jahrhundert von Christen wiederaufgebaut. Er beherbergt im Innern eine Moschee. Hier kann man die Ruhestätte von Abraham, Isaak und Jakob sowie deren Frauen Sara, Rebekka und Lea besichtigen. Auf die Erzväter berufen sich Juden, Christen und Moslems. Ein israelischer Soldat kontrolliert Besucher vor dem Eingang. Ob ich ein Messer dabei hätte, fragt er. Wir müssen warten, bis die Moslems ihr Freitagsgebet beendet haben. Es wirkt skurril: Israelische Soldaten mit Maschinengewehren schützen betende Juden und Moslems sowie Touristen aus aller Welt. Hier hat 1994 ein radikaler Siedler ein Blutbad unter den Betenden angerichtet, weil er das zweitwichtigste Heiligtum der Juden durch Moslems beschmutzt sah. Während die meisten Israelis den Massenmord mit 19 Toten und 150 Verletzten verurteilen, wird der Attentäter Baruch Goldstein, Arzt und Major der israelischen Armee, von den radikalen Siedlern nach wie vor als Märtyrer gefeiert. Mein Fahrer drängt zur Rückkehr. Wir müssen uns beeilen, raus aus Hebron, weil die Moscheen sich leeren und die Stimmung manchmal aufgeheizt ist. Der Zorn könnte sich an einem Fremden Luft machen. Als wir durch Drehkreuz und Gasse wieder in den muslimischen Teil Hebrons zurückkehren, ist es, als sei ein Film nur für einen Moment angehalten worden. Der zunehmende Lärm, das laute Treiben bildet einen Kontrast zur stillen Trägheit des Lebens jenseits des Checkpoints, wo zweitausend Soldaten mit Maschinengewehren achthundert fanatische Siedler, umgeben von 500'000 Palästinensern, vor Übergriffen schützen. Der Siedlerschutz ist ein Luxus, der den Siedlern erlaubt, sich in einer Art gegenüber einer übermächtigen Bevölkerungsmehrheit aufzuführen, die gut dokumentiert ist und jeder Beschreibung spottet.


„Auf tiefstem Niveau“

Von Jerusalem aus fahren wir am nächsten Tag auf der Autobahn Richtung Osten und Jordanien. Ibrahim ist Taxifahrer und begleitet mich einen Tag lang ans Tote Meer, das 450 Meter unter dem Meeresspiegel und an der tiefsten Stelle der Erde liegt. Auf dem Nullpunkt, bevor wir unter Meereshöhe fahren, halten wir an einem Imbiss, der von einem israelischen Siedler betrieben wird. Ein Araber im Wüstenlook bietet sein Kamel für einen kurzen Ritt an. Rundherum nichts als Sand und bizarre Felsenlandschaft. Es ist Mitte Oktober und schon am Morgen warm, im Sommer ist es hier kaum auszuhalten. An der Nordspitze des Toten Meeres, unweit von Jericho, der tiefsten und (nach eigenen Angaben) ältesten Stadt der Erde und nahe der jordanischen Grenze erreichen wir einen Badeort, der für alle – Juden und Araber – offen ist, sofern man sich die zehn Dollar Eintrittsgeld leisten kann. Hier baden neben Touristen Israelis, Palästinenser aus Israel und der Westbank zusammen, alle Körper schweben einträchtig und gemächlich auf dem Wasser. Als wir uns von oben bis unten bis zur Unkenntlichkeit mit schwarzem Schlamm eingeschmiert haben, sprechen uns zwei junge Männer an, die sich ebenfalls mit der mineralhaltigen Erde bedeckt haben. Sie wollen wissen, woher ich komme und loben die Schweiz, wo alle reich seien. Der eine beklagt sich in gepflegtem Englisch über die wirtschaftliche Situation in Israel, über die hohen Steuern und Abgaben. Und da ist er wieder, der Vexiersatz: „We have a lot of problems with the Arabs.“ Sein Freund macht Kommentare in Hebräisch. Daneben steht Ibrahim, mein palästinensischer Taxifahrer. Ich merke, dass er gebannt auf diese Kommentare hört. Ibrahim hat – bevor auch er zum Sicherheitsrisiko geworden ist – mehrere Jahre als Kellner in Israel gearbeitet und versteht Hebräisch. Später sagt er mir, was der Israeli gesagt hat: „Wir werden alle Palästinenser ins Tote Meer jagen.“

Was für eine Welt, wo der Instinkt von Hass und Intoleranz noch durch Dreck und Schlamm hindurch den Touristen erkennt und vom Araber unterscheidet. Der Vollständigkeit halber muss gesagt werden, dass Hass und Intoleranz auch auf palästinensischer Seite existieren.


„In welchem Sumpf wir gelandet sind, und wie hinaus.“

Wir sind bei Hamed und dessen deutschen Frau, Gisela, zu Gast. Auf der Veranda die Lichter am Abend von Bethlehem. Eine Wolke zehn Kilometer entfernt wird von der Metropole Jerusalem unterleuchtet. Die heilige Stadt, wo drei Religionen seit Jahrtausenden sich nicht nur an Intoleranz überbieten, sondern auch friedlich zusammenleben. Auch heute, wo – trotz Belagerung – Juden, Christen und Muslime auf engstem Raum ihre Gebete verrichten, wo Pilgerer aus der ganzen Welt die Insignien ihrer religiösen Wurzeln bewundern, wo die unterschiedlichsten Völker, Nationen und Religionen aneinander vorbeiziehen, ohne sich abzustechen. Wo auch kein noch so ausgeklügeltes Sicherheitsaufgebot der Israeli Anschläge verhindern kann. Die alltägliche Wirklichkeit in dieser geteilten Stadt ist Ausdruck nicht zweier geteilter Völker, sondern einer für ganz Palästina bezeichnenden, paradoxen Situation: ein vorwiegend eingewandertes Volk kontrolliert ein vorwiegend hier beheimatetes, zusammengedrängt, abgeschnitten von den eigenen geographischen Wurzeln oder rechtlich und sozial der Heimat entfremdet, der fundamentalsten Bedürfnisse auf Selbstbestimmung und Bewegungsfreiheit beraubt.

Von einer Zweistaatenlösung will Hamed nichts wissen, und zündet sich eine Zigarette an: „Was wird dann sein? Die zementierte Ungerechtigkeit! Die Kinder aus dem Flüchtlingslager von Bethlehem, deren Grosseltern aus Jaffa vertrieben wurden, haben das Meer nie gesehen. Mein Sohn hat seine deutsche Mutter bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr zum Flughafen von Tel Aviv begleitet, dann war Schluss.“ Man muss kein Träumer sein, um zu begreifen, wie Hamed das Meer fehlt. Gibril, der in Bethlehem für eine christliche Kirche arbeitet und im Flüchtlingslager aufgewachsen ist, erzählt von seinem Vater, der 1948 aus der Nähe von Tel Aviv hierhin vertrieben wurde. Der 86-jährige Mann, Vater von sieben Kindern, hat immer noch den Schlüssel seines – längst zerstörten - Hauses in der Hosentasche und ist überzeugt, einmal zurückkehren zu können.

Ja worin denn seiner Meinung nach eine Lösung bestehe, frage ich Hamed: Die weltweite Solidarität, die Palästina mit einer gewissen Zurückhaltung zuteil werde, sein ein Trost, aber keine Lösung, selbst die Anerkennung eines Palästinensischen Staates nicht. Die Welt und in ihr vorwiegend die offizielle Politik müsse anerkennen, dass es in Palästina die Besatzer und die Besetzten gebe. Dann müsse Israel erst Ordnung in die eigene Sicht bringen: auf Dauer könne Israel im arabischen Raum nicht sicher sein, umgeben von Iran, Syrien und Ägypten. Sicherheit für Israel, und somit für Palästina, gebe es nur, wenn Israel sich seiner historischen Schuld stelle. Das „gelobte Land“ liege nicht am Mittelmeer und die Heimat eines Grossteils der Palästinenser nicht nur in der Westbank, sondern in ganz Palästina, wo man mit den Juden bis 1948 in Frieden zusammengelebt habe. Juden und Palästinenser lebten oft in denselben Häusern oder waren Geschäftspartner. Alte, vertriebene Palästinenser erzählen davon, wie Frauen aus dem Dorf und der jüdischen Siedlung in der Nachbarschaft gemeinsam Brot buken oder Kranke versorgten. Eine Zukunft für alle gebe es nur, wenn Israeli und Palästinenser sich auf einem als gemeinsam akzeptierten Raum in einem Staat mit demokratischen und für alle gültigen rechtsstaatlichen Regeln zusammenrauften.

Und warum nicht? Warum sollte, was in Südafrika gelungen ist, nicht auch hier gelingen? Hat die Weltöffentlichkeit, die so lange zu diesem Konflikt geschwiegen und ihn durch die Unterstützung des Apartheitsregimes kräftig am Leben erhalten hat, seiner Erleichterung nicht in einem kräftigen Applaus Luft gemacht? Wurde nicht unlängst der erste Präsident Südafrikas und einst militärischer Führer einer Rebellenarmee als einer der grössten Friedensstifter in Ehren und unter weltweiter Anteilnahme begraben? Wer würde sich heute noch für das historische System stark machen, selbst wenn die Probleme in Südafrika – wie man sieht - nicht von heute auf morgen aus der Welt zu schaffen sind?

Würden die Palästinenser über die Israeli herfallen? Hier kann man nur wiederholen, was man bei einem Augenschein in Palästina erkennt: trotz der weltweit höchsten Sicherheitsstandards lässt sich eine völlige Sicherheit und eine absolute Isolierung der Palästinenser nicht herstellen. Schliesslich können die israelischen Soldaten nicht in jede Tüte gucken, welche die Checkpoints von Jerusalem passiert, nicht jeden Bus mit Nacktscanner und Sprengstoffhunden durchforsten – und sie tun es auch nicht. Es wäre purer Rassismus zu behaupten, die Palästinenser seien kein friedfähiges Volk – sie sind es und beweisen es täglich. Das Gegenteil wäre der Fall: in einem gemeinsamen Staat würde die Mehrheit solche Terrorakte (die im Übrigen auch von radikalorthodoxen Siedlern begangen werden) nicht nur missbilligen, sondern auch mit vereinten Kräften zu verhindern wissen. Die Frage ist, ob die Existenzberechtigung Israels weiterhin auf tatsächlichem und drohendem Terror beruhen soll oder kann.

Schliesslich sollten auch die globalen Mächte – allen voran Westeuropa und die USA – im eigenen, nicht nur moralischen, sondern auch sicherheitspolitischen Sinn ein Interesse an der Lösung dieses Konflikts haben. Vielleicht liegt er sogar vorrangig in deren Händen. Etwas mehr Mut und Deutlichkeit in intellektuellen und politischen Kreisen im Westen würde auch einer Mehrheit der israelischen Bürger, welche die Situation satt hat, erleichtern, Druck auf ihre Regierung auszuüben. Wir sind es nicht nur den Palästinensern, wir sind es auch den Israeli und der globalen Sicherheit schuldig. Israels Existenz kann nicht ohne die traumatisierenden Erfahrungen der Vernichtungsmaschinerie der Nazis gedacht werden und das Existenzrecht des palästinensischen Volkes nicht ohne das Unrecht, welches ihm seit 1948 widerfährt.


„Jede Mauer ist eine Pforte“ (Emerson)

Banksy hat etliche Stellen an der Mauer bemalt und sich damit die Kritik von radikalen Palästinensern zugezogen. Die Mauer sei die Mauer und kein Hoffen dürfe ihre Wirklichkeit beschönigen. Welche Verzweiflung, wenn selbst die Hoffnung aus dem Leben verdammt ist. In Tel Aviv, diesem Nizza des Orients, geben sich die unterhaltungssüchtigen und kunstversessenen Pendler Westeuropas und den USA am Flughafen Ben Gurion die Klinke in die Hand. Tel Aviv ist hype, Tel Aviv ist jung, Tel Aviv ist schön und hungrig, hungrig auf Erleben und Kultur. Um es mit Camus zu sagen: “In der Deckkajüte der Galeeren kann man bekanntlich immer und überall die Gestirne besingen, während im Schiffsrumpf die Sträflinge rudern und keuchen; man kann immer das artige Geplauder aufzeichnen, das auf den Zuschauerbänken des Zirkus dahinplätschert, während die Knochen des Opfers unter den Zähnen des Löwen krachen.“

© Roger Staub, Oktober 13


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